Andorra II Das verflixt schöne Leben


Alexis Sorbas


Mein Aufwachen ist von Tag zu Tag normaler. Die Erinnerungen an die Knastgeräusche verblassen. Ich lerne viel über meine neue Umgebung. Franken ist der obere Teil vom Bundes­land Bayern. Bayern ist nur der südliche Teil und zwischen Bayern und Franken herrscht ein kleines humor­volles Geplänkel.
Der Alltag hat uns: ich gehe einkaufen und Maximilian kocht, so machen wir das. Abends gehen wir auf ein Bier in die als berüchtigt und verrufen be­kannte Kneipe „Freiburg“ in der Nähe des Lorlebergplatzes. Sie ist bis 3:00 Uhr geöffnet. Immer total voll und zugeraucht. Es gibt einen Musik­automaten in dem fast ständig „Angie“ von den Stones läuft. Sollte man noch Hunger bekommen, dann gibt es nur ein Gericht: Currywurst mit Brat­kartoffeln. Für einen Groschen kann man am Tresen aus einem Automaten Salznüsse ziehen. Weil der zu oft entwendet wurde, hat der Wirt ihn angekettet. Ich genieße es, unter den vielen Menschen zu sein. Es ist viele Jahre her, daß ich überhaupt abends ausgegangen bin – damals zu Trudchen ins Hospiz.
Sie sprechen hier kein Bayrisch, sondern fränkisch und wenn sie „Oh mein Gott“ sagen, dann ist das „Allmächd na“ und auf dem Dorf haben sie mal zu Kartoffeln Erdäpfel gesagt, das kannte ich auch aus Thüringen. Manche Verben haben eine völlig andere Bedeutung, so bedeutet ‚schlichten‘, womit wir einen Streit beilegen, in Franken etwas stapeln.
Es ist viel Wärmer und milder, als in Thüringen. Die Häuser oft aus Sand­stein. Fast jedes Dorf hat eine eigene Brauerei, die Klöße sind nicht grün, sondern weiß, werden fast genau wie in Thüringen gemacht und dann ge­schwefelt, wodurch das grün Anlaufen, das Oxydieren verhindert wird. Dazu gibt es auch Braten, die Bratensoße wird mit Bier gemacht dazu Rot- bzw Weißkraut und besonders Lecker eine Fränkische Spezialität: ein Schulter­stück „Schäufele“.

Aus Eisenach kommen unsere Geburtsurkunde die Schulzeugnisse mein Facharbeiterbrief per Ein­schreiben an. Mein Taufschein und die Konfirmationsurkunde liegen auch dabei. Ich hefte alles in eine Mappe – fertig.
Wir waren am Rathaus zum Anmelden am Einwohneramt, dann zur Paßstelle und Verkehrsamt die Fahrerlaubnis umschreiben. Wir bekamen eine Krankenversicherung bei der AOK und meldeten uns beim Arbeitsamt an. Sie fragten nach meiner Berufsausbildung, „Zerspanungsfacharbeiter“, da mußten sie erst suchen, was das ist. Wir mußten uns bei der Sparkasse ein Giro Konto eröffnen. Vom Sozialamt haben wir Geld bekommen, damit wir uns eine Grundausstattung kaufen können. Hemd, Hose, Schuhe, Mantel, usw. Sogar Geld für Kohlen für den Winter. Und auf jedem Amt fragen sie mich, wann ich denn nach Deutschland gekommen sei und das macht mich jedes mal sehr wütend. Einen lauten Anfall habe ich im Großraumbüro im Rathaus bekommen, als ich den Paß und den Personalausweis abholte. Da war meine Fahrerlaubnis umge­schrieben und auf meinem Führer­schein stand geboren in Jena/DDR. Ich bin vor plötzlicher Rage fast über den Tresen gesprungen und habe den Sachbearbeiter angeschrien, er möge das bitte umgehend neu machen und schreiben: Geboren in Jena oder Jena/Thür.

Nachdem alle erschrocken her ge­schaut haben, nahm er meinen Führerschein zurück und bot mir an, ich solle ihn morgen wieder abholen, er würde das ändern.
Wir bekamen eine Aufforderung uns bei einem Arzt vorzustellen. Der be­antragte sofort für uns eine Kur und schrieb uns bis dahin krank. Seine Begründung: Mangelernährung, schlechter Körperlicher Zustand und Untergewicht.
Ich fühle mich aber nicht so.
Die AOK antwortet umgehend: Genehmigt.
Ein Brief von der Bundeswehr kam, ich sei nicht wehrpflichtig, da ich meine Wehrpflicht bereits abgeleistet hätte.
Auch ein Schreiben vom BND kam, ob ich zu einem Gespräch nach Nürnberg kommen würde. Da erinnere ich mich, daß ich im Lager Gießen dem BND-Beamten die Aussage verweigert hatte.
Ich fahre mit dem VW-Käfer nach Nürnberg. Unterwegs, als ich die Schilder mit der Fernstraßennummer „B4“ sehe, begreife ich, daß ich diese Fernstraße „4“ schon oft entlang gefahren bin, damals in Erfurt. Ich war mir nur nicht bewußt, daß diese Fernstraße längs durch ganz Deutschland führt. Es gibt mir ein gutes Gefühl, ich kann es aber nicht genauer beschreiben, vielleicht weil es Erfurt und Nürnberg, das Damals und das Jetzt verbindet.

In Nürnberg, das Büro nett und hell, mit Kaffee und Keksen auf dem Tisch. Sie fragen mich nach meiner Armeezeit, Standort, Gattung, Offiziere Namen mit Dienstgraden. Ich gebe gerne und ausführlich Auskunft und biete an, da ich eine dicke Krankenakte aus meiner Armeezeit wegen meiner Nasenneben­höhlen Operationen hatte, diese dem Beamten zu überlassen. Das nimmt er gerne an. Es gibt zum Abschied einen Entschädigungsaufwand und Fahrgeld, ausgerechnet bis auf die Nachkomma­stellen.

Auf dem Heimweg von Nürnberg er­innere ich mich wieder an Gefühle aus meiner Armeezeit. Wie ich die Uniform gehaßt habe. Als ich die Uniform auszog mir geschworen haben, nie wieder würde ich etwas anziehen, was nach Uniform aussieht. Schon der Anblick der Schulterstücken, das stammt direkt vom Imponiergehabe in der Tierwelt ab. So möchte ich nicht aussehen und mich nicht zeigen.
Die vielen Monaten in der Zelle, mein Körper ist immer noch nicht wieder an Bewegung gewöhnt. Schon das Treppe steigen in den 2. Stock strengt mich an. Aus der Wohnung höre ich Musik. „Grieg Morgenstimmung“ das ist diese Art von Musik, bei der es sofort in meiner Nase kribbelt, als ob Tränen aufsteigen möchten. Diese Oboe, dieses leicht singende Schweben. Warum berührt mich diese Musik jetzt so intensiv? Was ist nur los mit mir? Ich setze mich auf die Treppe, einfach nur um zuzuhören. Unbedingt muß ich die Eltern in Eisenach anrufen, ob meine Querflöte noch existiert und sie mögen sie mir bitte schnell schicken. Diese verfluchte Stasi, sie hatten mich nicht nur eingesperrt und mir die Bewegungs­freiheit genommen, sie hatten mir auch das Riechen, das Sehen und das Hören genommen. In der U-Haft meine fensterlose halb­dunkle Zelle, der ewige Geruch nach Desinfektionsmitteln und diese absolute Stille. Das Fehlen von Geräuschen, das Fehlen von Musik. Dann höre ich unten die Haustür und es kommt Friedolin und Alma die Treppe herauf.
„Was machst Du hier draußen?“ Fragt Alma.
„Ach, nur der Musik zuzuhören“.
Friedolin balanciert ein Kuchenblech in der Hand „Habe einen Zwetschgen­datschi für Euch gebacken.“
„Was ist’n Datschi?“
„Das ist ein Zwetschgenkuchen, nur der bayerische Ausdruck.“
Ich schließe die Tür auf, wir gehen hinein.
Maximilian sitzt im Sessel und liest Zeitung.
Friedolin lautstark: „Kaffee kochen, Sahne schlagen. Auf geht’s! Alle fertigmachen zur Zählung!“ und lacht.

Er hat eine besondere Begabung schöne Dinge zu erkennen. So findet er bei Trödel- und Gebrauchtwaren immer tolle Sachen. Seine Kuchenteller sind mit zart blau-weißen Ornamenten verziert und die Kuchengabeln aus Silber, der Kuchenheber hat einen Griff aus Porzellan.
Ich suche mir eine Schüssel und den Schneebesen und mache mich ans Sahne schlagen.
„Vergiß nicht, 2 Teelöffel Zucker dazu zu tun ...“ ermahnt mich Friedolin.
„… und ich habe gute Neuigkeiten für Euch. Ich habe eine neue Wohnung gefunden und Ihr könnte diese hier behalten, solange es Euch gefällt.“
„Tja …“ sagt Alma
„... und ich habe auch was Gutes zu berichten: Ich lade Euch heute Abend ein nach Nürnberg ins Plärrer Kino. Es läuft im Kino 3 „Alexis Sorbas“. „Das gibt es als Film?“
„Ja, mit Anthony Quinn“
Ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte mal im Kino war. Ich glaube es war in Eisenach im Capitol: „Die Söhne der großen Bärin“ ein Indianerfilm der DEFA - sehr lange her. „Wann geht das los? Wann fahren wir ab?“
„Das geht um 20:00 Uhr los, die Werbung eine Viertel Stunde. Es reicht, wenn wir nach der Werbung hinein gehen.“
„Nein, laß uns lieber rechtzeitig da sein, sonst gibt es nur noch Plätze in der Rasierloge.“
Friedolin, der meinen besorgten Gesichtsausdruck sieht:
„Keine Panik, Kino ist hier ganz anders, als Du es kennst.“
Mit dem Käfer fahren wir über die B4 nach Nürnberg. An der Kaiserburg über den Plärrer und dem Opernhaus vorbei und kommen hinter dem Hauptbahnhof zum Casablanca Filmkunsttheater, indem gleich mehrere Kinos sind. Das Foyer elegant, rote Teppiche, große Filmplakate an der Seite mehreren Kassen und oben drüber eine Anzeige, welcher Film, wann in welchem Kino läuft.
Da steht: Kino 3 Alexis Sorbas Anfang 20:00 Uhr!
Alma kauft Eintrittskarten und Friedolin an einem Kiosk neben den Kassen vier Flaschen Bier.
Im Kino dicke Polstersitze. Die sind etwas nach hinten geneigt, sodaß man entspannt sitzen kann, ohne den Hals zu verrenken. Vor den Sitzen, an der Rückseite der Sitzreihe davor ist ein langes Brett, mit jeweils einer Ver­tiefung passend für eine Flasche Bier, eingelassen.
Das ist Kino. Das gefällt mir.
Jeder sieht einen Film anders. Vielleicht sieht man ihn selbst anders, wenn man ihn erneut anschaut. Ich bekomme von der Handlung wenig mit, so sehr bin ich von der Landschaft gefesselt. Das Meer, das andere hellere Licht, der kleine Hafen und da einfach sitzen und schauen. Ich atme mal um mal schwerer, es drückt etwas auf meinen Brustkorb. Ich bin wieder in der Zelle, halte das Buch in den Händen, erinnere mich an die durch das Buch ausgelösten Träume. Und jetzt im Film ist alles noch viel viel schöner. In meinem Vorstellungen damals, fehlte das Meer, die Sonne und der Film hat dazu diese wunder­bare Musik.
Auf dem Heimweg fragt Alma, was mir besonders gefallen hat:
„Ach, der Film löst noch mal die Freude darüber aus, daß es kein ferner Traum mehr ist, daß ich mich morgen auf den Weg machen könnte, um dorthin zu fahren. Das ist meinem Bewußtsein noch immer nicht ganz klar.“
Darauf schweigen wir alle eine Weile vor uns hin.
Ich mache den Vorschlag:
„… kommt wir gehen noch auf’n Bier in die Freiburg?“
In der Freiburg ist es voll, wir finden an einem der großen Tische Platz um uns mit dazuzusetzen. Ich hole uns vier Helle. In der Kneipe sitzen und reden, es ist einfach schön.
„Aber um noch etwas zum Film zu sagen ...“
„Erst mal Prost und danke für die Einladung zu Alexis Sorbas!“
„Gern geschehen!“
„ … Zorbas gehört zu den Mutigen. Man kann die Menschen unterteilen in Mutige und Feige. Die Feigen werden nie mutig - Kazantzakis hat das gewußt.“
„Stimmt“
„Übrigens, der Tanz „Sirtaki“, den haben sie für den Film erfunden und die Melodie hörst Du ständig in den griechischen Gaststätten.“
„Mir war auch so, als ob ich die Melodie schon bei Sulla gehört hätte.“ „Die Unterteilung in Mutige und Feige, das siehst Du zu krass. Jeder hat das Bedürfnis nach Freiheit, aber nicht jeder ist mutig genug sich auf den Weg zu machen.“
„Nein, nein! denk doch mal zurück, die vielen Mitläufer, diese elenden Opportunisten, die sind einfach zu feige zum Leben, mit denen kannst Du nicht über Freiheit reden, weil sie Unfreiheit nicht wahrnehmen.“
„Ja, für Euch hat Freiheit eine ganz andere Bedeutung, als wenn man sie schon immer hatte. Sag mal, warum habt ihr im Knast Alexis Sorbas und Thor Heyerdahl so geliebt?“
„Ganz einfach, das ist wie für Hungernde das Kochbuch!“
Nach so einem Abend ist es schön heim ins Bett zu gehen.
Ich fühle mich wieder am Leben.