Andorra II


21 Besuch


Daß Zeit vergeht, daß Leben gerade passiert, ist mir im Bewußtsein nicht präsent. Auch einen Gedanke an: „was will ich werden?“ oder „was wird mal sein?“, habe ich nicht. Um mich herum ist Leichtigkeit. Irgendwie, als ob ich meine mir gestohlene Jugend nachhole. Ein Tag folgt auf den anderen und jeder Tag ist schön. Bin ich ein Taugenichts nach Eichendorffs Vorbild? Könnte sein: mein Nomadengen und dazu das Nachdenken über das Warum in den Dingen. Mein innerer Freudenschubs ist immer noch stabil. Er ist wie ein Grundrauschen in meinen Gefühlen. Das Taxifahren bringt ausreichend Geld. Niemand fragt nach einer Krankenversicherung. Ich gebe überall an, ich sei Student, mir fällt selber nicht auf, daß ich das nicht bin, sondern nur Gasthörer. Damals, als wir hier ankamen und wir uns angemeldet hatten, sagte der Beamte: „Drei Männer, auch wenn ihr Brüder seid, geht nicht auf 35m² Wohnfläche“. Er empfahl mir, ich solle eine Sozial­wohnung beantragen, was ich tat und weil ich nicht wußte, was es damit auf sich hat, sofort wieder vergaß. Ein Brief vom Amt ist da. In acht Wochen würde eine 1-Zimmer Wohnung mit Bad in der Elisabethstraße frei. Diese Wohnung hier hatte ich bei meiner Abreise nach Italien Isa überlassen und bin bei meiner überstürzten Rückkehr wieder eingezogen. Da Isa noch in Schwabing bei den Proben war, legte ich mich wieder in mein altes Bett. Als Isa nach der Premiere kam, haben wir nicht darüber gesprochen. Wir genießen das gemeinsame Leben. Wir wohnen zusammen, aber es ist aus Versehen … ich habe bisher nicht darüber nachgedacht, wozu auch? Es war schön und gut! Aber nicht richtig. Ich rufe den Sachbearbeiter an und sage der Wohnung zu.

Die Adresse des Autohändlers ist in Nürnberg-Süd, Sigmundstraße, im Industriegebiet. Ich rufe an und höre, ich soll gleich kommen. Sabah LKW-PKW Handel. Es ist ein großer Sandplatz, an der rechten Seite zwei Wohncontainer. An der Stirnseite stehen ein paar gebrauchte Mercedes LKW. Neben dem Wohncontainer ein dunkelblauer Mercedes-S-Klasse. Ich parke meinen Käfer daneben und klopfe an der Tür des Containers. „Herein!“ antwortet eine Männerstimme. Innen an der einen Seite eine zerschlissene Sitzecke aus Sofa, Sessel und einem niedrigen Tisch. Er sitzt in der anderen Hälfte des Containers hinter seinem Schreibtisch. An der Wand ein Aktenschrank daneben ein großer loser Stapel Stadtpläne. Er circa 40 bis 50 Jahre alt, kurze leicht graumelierte schwarze Haare, einen dunkeln Anzug und sehr auffallend: am kleinen Finger der linken Hand trägt er einen dicken schwarz-goldenen Ring. „Komm rein, Du hast vorhin angerufen?“ Und reicht mir zur Begrüßung seine Hand über den Schreibtisch hinweg. Er ist kein Freund vieler Worte, denn er zeigt nur auf den Stuhl neben seinem Schreibtisch, macht dabei eine Handbewegung wie hinsetzen und gib mal her. Ich reiche ihm meinen Führerschein, den er, nachdem er ihn angeschaut hat auf den Kopierer legt. Während er ihn mir zurückgibt sagt er: Na, dann sag mal…“ obwohl sehr kurz angebunden, macht er dabei ein freundliches Gesicht und als er hört, ich bin lange als Kieskutscher auf Baustellen gefahren, dann Möbel im Fernverkehr und jetzt Taxi, ist er zufrieden. „Ich hätte für Morgen einen Kipper abzuholen, steht auf einer Baustelle bei Würzburg?“ Dabei schaut er mich fragend an. „Kann ich schon machen, wie komme ich hin?“ antworte ich ihm. Er nimmt das Telephon und wählt „Augenblick, ich sage gleich Bescheid“ und dann spricht er in den Hörer: „Morgen Mittag, ja gut, Sie kommen zum Bahnhof und holen den Fahrer ab?“, dann brummt er etwas, um dann mit einem „Danke, das ist gut.“ aufzulegen.
„Du fährst mit der Bahn nach Würzburg, dort rufst Du diese Nummer an und wirst abgeholt.“ dabei schiebt er mir einen Zettel mit der Telephonnummer rüber. „Laß Dir den KFZ-Brief und den Schein geben! Du bekommst Deine Spesen und als Lohn 100 DM wenn der LKW hier auf dem Hof steht. Als Anzahlung: hier sind 50 DM.“ greift in sein Portemonnaie, reicht mir das Geld. Ich bin perplex. Er hat mich gleich geduzt und mir ohne viel zu fragen einen Auftrag gegeben. Das ist sehr viel Vertrauen und gibt mir sogar Geld, ohne Quittung zu verlangen. Er macht einen sehr sympathischen Eindruck, da schiebe ich mein Mißtrauen weg. Wir geben uns zum Abschied noch einmal die Hand. Sein Händedruck ist fest - ein gutes Gefühl. Daheim erzähle ich Isa davon. Sie nimmt es wie nebenbei zur Kenntnis, als ob ich sie lediglich informieren würde, daß ich morgen unterwegs bin, das besondere, daß ich wohl bald eine Tour nach Griechenland eventuell sogar Damaskus bekomme, erreicht ihre Wahrnehmung nicht. In der Nacht mache ich schon gegen halb vier Uhr Feierabend und stelle die Zwo-sieben vors Brazil, gehe heim, um ein paar Stunden zu schlafen. Um 10:12 geht der D-Zug nach Würzburg und komme kurz vor 12 Uhr an. Das mit dem Anrufen klappt vorzüglich. Zwanzig Minuten später holt mich ein Baustellenfahrzeug ab. Wir fahren hinaus in einen Vorort und dort auf einen großen Hof voller Baumaschinen. Er hält vor einem grell gelben Mercedes 1828, noch die ältere Baureihe mit der Schnauze vorne und dann erst die Fahrerkabine. „Der hier ist es, schau ihn Dir an, die Papiere bringe ich Dir in 10 Minuten. Schlüssel steckt.“ Damit steige ich aus und er fährt weiter. Ich muß den Wagen nicht begutachten, denke ich. Er muß nur Verkehrssicher sein. Also steige ich ein, schalte die Zündung an und teste Licht und Blinker. Dann starte ich, aber er springt auch nach langem Vorglühen nur stotternd an und zieht nicht durch. Von innen entriegel ich die Motorhaube, steige aus und klappe sie hoch. Auf den ersten Blick schon kann ich sehen, typisch Baustellenfahrzeuge, alles völlig verdreckt und deutlich zu sehen, das Sichtglöckchen ist verstopft. Der aus dem Motorraum aufsteigende Geruch nach Diesel, Öl und Abgasen bringt in mir, in seltsamer klarer Schärfe ein Bild aus meiner Flucht hervor. Ich sehe deutlich den alten Mercedes LKW, sehe, er war blau. Der alte Türke nahm mich als Tramper kurz hinter Prag mit und wir fuhren zusammen bis Brünn. Auch bei ihm stotterte der Motor und zog nicht richtig durch. Ich kannte mich aus, sah, es lag am verstopften Sichtglöckchen der Dieselleitung. Reinigte und entlüftete und wir fuhren weiter. Der alte Mann, bereits seit Westberlin gefahren, war müde und er sah, ich kenne mich aus, deshalb wechselten wir ohne Worte Fahrer und Beifahrerseite. Ich fuhr weiter. Jetzt sehe ich sogar genau sein hageres Gesicht, wie er neben mir müde auf dem Beifahrersitz schlief. Und fühle auch, wie ich mich damals auf einmal sehr stark und zuversichtlich fühlte. Das alles, Gefühle, Gerüche und die deutlichen Bilder sind da, als ob ich es erlebe. Wie funktioniert das in in meinem Kopf mit dieser drei Pfund Gellertmasse? Wie ist das darin gespeichert, daß ich nie wieder daran gedacht habe und auf einmal ist es vollständig mit allem drumherum da? Der Geruch des Diesels? Sogar meinen Stolz fühlte ich, hatte eben einen West-LKW repariert. Bestimmt mein Gehirn, ob ich mich mutig oder feige fühle, ob ich fröhlich oder traurig bin !? Beim Vokabel lernen bemühe ich mich und trotzdem vergesse ich wieder und dann ein irgendwie nebenbei aufgeschnapptes Wort bleibt fest im Gedächtnis? Bestimmt die Chemie in mir auch, welche Moral ich habe? Ich reinige das Sichtglöckchen, entlüfte am Ventil der Dieselpumpe die Leitung, klappe die Motorhaube zu und starte. Ich muß noch etwas Vorglühen, aber dann: ein paar Huster … : jetzt läuft er satt und rund. Der Fahrer kommt zurück, überreicht mir die Papiere und wünscht gute Fahrt: „Ach ja, paß auf, manchmal zieht er nicht richtig“. Ich lächle, vielleicht etwas arrogant und antworte: „Jaja, schon gut ...“ und im langgezogenem Fränkisch füge ich an: „… paßt scho!“ Dann lege ich eine neue Scheibe in den Fahrtenschreiber und fahre los. Die Tanknadel liegt fast auf null, ich sollte tanken. Ich gebe das vom Fahrkartenkauf verbliebene Restgeld aus, dann sind die erhaltenen 50 DM, genau meine Spesen.

Nachmittags bin ich zurück bei Sabah. Er schaut sich den LKW an und ist sehr zufrieden. Als ich ihm die Anekdote mit dem „er zieht nicht richtig“ und meiner kleinen Reparatur erzähle, freut er sich. Ich habe das Gefühle, ich habe gerade meine Probe bestanden. Im Büro bekomme ich meinen Lohn und er bringt mich noch zur S-Bahn. Im Auto spricht er mich an: „Eventuell nächste Woche habe ich eine Tour nach Griechenland, hast Du Zeit?“ Ich muß nicht überlegen und sage zu, ohne nach dem Lohn zu fragen.

Zurück in Erlangen ist es Zeit die Zwo-sieben zu übernehmen. Auf einer Fahrt nach Dechsendorf, als ich am Langen Johann an der Ampel stadtauswärts stehe, sehe ich die Eins-neun mit Ingo auf der Gegenspur stadteinwärts. Ich funke ihn an: „Zwo-sieben an Eins-neun.“ „Eins-neun hört!“ „Um 21:00 Uhr im Forsthof?“ ein doppeltes Knacken bestätigt. Kurz vor Neun höre ich: „eins-neun macht Pause.“ bevor die zentrale das bestätigen kann und Ingo das Taxi verläßt funke ich schnell „Ingo bestell mir ein Schäuferle mit, bin gleich da.“ und wie zu erwarten schimpft die Zentrale „Eins-neun verstanden und Zwo-sieben Funkdisziplin!“ In der Zentrale am Bohlenplatz sitzt unsere Funkerin in ihrem kleinen Kämmerchen, manchmal wenn nichts läuft steht sie am Fenster und schwatzt mit einem Fahrer. Sie kennt uns alle an der Stimme. Sie kennt auch alle Wirte und deren Kellner und weil es bei unserer Zentrale so familiär zugeht rufen sie auch alle bei uns an. Wir heißen wegen unserer Telephonnummer allgemein nur die Zweiundzwanziger. Von den zwei Erlanger Taxizentralen sind wir die kleine mit dem besseren Nachtgeschäft.

Ich habe einen Mords Hunger, jetzt bemerke ich erst, ich habe seit der Stulle zum Frühstück nichts mehr gegessen. Mein Schäuferle mit einem wahrhaft riesigen Kloß, kommt auch schon und dazu ein Schälchen bayerischen Krautsalat mit Speck und Kümmel. Seit sie in der U-Haft, bei der Essensausgabe, wenn sie vor der Zelle aus den großen Kübeln das Essen auf den Teller gefüllt und dann mit einer lockeren Handbewegung, ich konnte das von innen heraus genau sehen, extra eine Handvoll Kümmel darüber gestreut haben, seitdem kann ich Kümmel nicht mehr sehen. Der sowieso … Kartoffelmatsch war dann über und über mit Kümmel bedeckt. So stellten sie den Blechteller auf die Essensklappe. Ich weiß nicht, wie er wirklich schmeckt, ich will ihn einfach nicht und pule ihn Krümel für Krümel aus dem Krautsalat heraus. Ingo fragt nicht mehr, er kennt das schon. Ich berichte ihm von meinem gestrigen Besuch bei Sabah und meiner heutigen Fahrt nach Würzburg und der Ankündigung einer Tour nach Griechenland. Er erzählt mir, es gibt viele Studenten, die Autos überführen. Nach Afrika und den Nahen Osten für wenig Geld, da sie in den Urlaub kommen, Abenteuer erleben und nur die Heimreise organisieren müssen. Ich nehme mir vor morgen gleich bei Sabah anzurufen und zu fragen, wie es mit der Heimreise ist.

Ich bin sehr müde, stelle früh ab und gehe heim ins Bett. Ich freue mich auf meine kleine duftende Liebesnarkose. Wenn ich ins Bett komme, Isa sich meinen Arm und Schulter als Kopfkissen zurecht ruckelt und ich den Duft ihres Körpers und besonders ihrer Haare in die Nase bekomme ... heute schlafe ich schnell ein.

„Du hast Post, ein Eilbrief!“ damit weckt mich Isa.
Es ist in Augsburg abgestempelt, aber der Absender: Renates Mutter Ursula aus Eisenach. Sie schreibt, sie ist gerade bei ihrer Verwandtschaft und möchte auf dem Heimweg nach Eisenach, mich besuchen kommen. Ob ich sie ab Bahnhof abholen könnte? Und dazu eine Tel Nummer aus Augsburg. Ich trinke schnell einen Kaffee und laufe rüber zur Telephonzelle am Zollhausplatz. Ein Junger Mann nimmt ab: „Ja, seine Tante Ursula sei da. Augenblick.“ Dann höre ich Ursula. „Hallo, wie geht es Dir?“ ich muß schlucken, das ist das erste mal, außer mit meinen Eltern, daß ich mit jemandem, den ich aus dem Osten, aus meinem vorigen Leben kenne, rede. „Ja hier alles gut, sehr gut! Wann kommst Du an, ich hole Dich ab!“ „Das ist sehr lieb, der Zug kommt morgen 12:08 Uhr an und ich fahre 15:48 weiter nach Bebra und muß dort umsteigen über Herleshausen nach Eisenach.“ „ „Alles klar, bis später!“

Eingebrockt habe ich mir das selber, weil ich keine klare Situation geschaffen habe. War oder bin ich vielleicht zu feige, vielleicht zu gutmütig, vielleicht beides? Wir waren die klassische Jugendliebe, fast schon Buddelkastenliebe. Aber nie waren wir durchgehend zusammen. Sie hatte irgendwann einen neuen Freund und ich nach dem Abschluß der Schule und während meiner Lehrzeit, trampte sooft es ging zu Gudrun nach Weimar, dann kam meine Armeezeit und es gab kein Weimar, keine Gudrun mehr. Da erreichte mich Monate später, in der Kaserne ein Brief von Renate, sie möchte mich besuchen. Von Eisenach mit der Bahn zu mir nach Eggesin ans Oderhaff, waren es 13 Stunden Fahrt. Es war nur ein kurzer Besuch, ich erhielt für Samstag von 10:00 bis 20:00 Uhr und am Sonntag von 10:00 bis 18:00 Uhr Ausgang. Wir gingen viel Spazieren oder Kaffee trinken in den Gasthof. Durch Nähe, Wärme und Reden kam die alte Vertrautheit zurück. Das brachte uns wieder zusammen. Nach der Beendigung meines Wehrdienstes wurde es intensiver und dann haben wir uns verlobt. Die Verlobung habe ich ein paar Monate vor meiner Flucht aufgelöst. Ich sagte damals zu Renate, das ist ein so großer Schritt ins Ungewisse, ich kann nicht sagen, was wird. Auch, wenn Du meine Verlobte bist und ich abgehauen, wirst Du Schwierigkeiten bekommen und sowieso nicht mehr als Lehrerin arbeiten können. Sie werden Dich entlassen. Wir sprechen uns wieder, wenn ich im Westen angekommen bin. Dann haben wir uns zur Sicherheit nicht mehr gesehen. In den Knast, hat sie mir als meine Schwester getarnt, einen langen Brief voll Liebe geschrieben. Dann ist der Kontakt abgebrochen. Wir durften nur einen Brief, eine A4 Seite, pro Monat bekommen. Den schrieb immer unsere Mutter und unser Vater setzte einen Gruß darunter. Es ist keine Liebe, es ist … und da fehlten mir die richtigen Worte. Ich dachte oft darüber nach, ... am nächsten ist es beschrieben mit Verantwortung für jemanden, mit dem man mal verbunden, der aber zurückblieb. Von meinen Reisen habe ich ihr Ansichtskarten geschickt, aber eben nur allgemeine Grüße. So ausführlich habe ich das ganz am Anfang Isa erzählt und betont, es gibt da jemanden im Osten, für den trage ich noch Verantwortung.

Daheim erzähle ich Isa von dem zu erwartenden Besuch und meinen Befürchtungen. Da kommt eine Frau, war fast mal meine Schwiegermutter, lebt für Ostverhältnisse sehr privilegiert. Ist Ehefrau des Chefarztes, wohnt in einer Villa mit riesigem Garten. Darf sogar in den Westen reisen. Sie will bestimmt schauen, wie es ihrer Tochter gehen wird, wenn sie in den Westen kommt. Und ob sie weiß oder versteht, daß ich zu ihrer Tochter Freundschaft und Verantwortung aber keine Liebe mehr habe? Sie wird das kleine Hinterhaus, die ausgetreten Stufen, unsere Jaffa Möbel und die Badewanne in der Küche sehen. Sie wird von meinen Reisen gehört haben und sich denken, was für ein Hallodri. Ich erinnere mich sehr gut, wie sie in Eisenach, ich saß mit bei ihnen am Mittagstisch, gesagt hat, unser Vater hätte uns falsch erzogen. Sie meinte damit, er hätte uns beibringen müssen, zu kuschen, den Lehrern die gewünschten Parolen zu wiederholen und ansonsten nicht aufzufallen. Sie wird nicht verstehen, daß das erstens grober Blödsinn und zweitens liegt es nicht nur an der Erziehung, ob man kuscht oder aufmüpfig ist und den Freiheitsdrang hat. Natürlich spielt Erziehung eine Rolle, aber wenn man in unmittelbarer Nähe einer Stacheldrahtgrenze aufwächst und jenseits ist die Freiheit, da will und muß man hinüber, damit man nicht seelisch vertrocknet. Vielleicht gibt es, ähnlich wie beim Testosteron auch ein Freiheitshormon, eine chemische Substanz, die den Freiheitswillen mal mehr, mal weniger stark ausprägt. Ist das Chemie, wie bei Narziß und Goldmund, die bei Goldmund das bestimmte Brennen ausgelöst hat, daß man nur selbst spürt und wie deutlich es schmerzt, wenn man es spürt, weil man hinter Stacheldraht lebt. Das Brennen hätte sie nie verstanden! Sie ist der Meinung: die Eltern sind verpflichtet ihren Kinder nicht nur beizubringen, was gute Tischmanieren, was anständiges Deutsch ist, sondern in einer Diktatur auch, wie das politische Verhalten zu sein hat, um überleben zu können.

Isa hört mir schweigend zu. Sie hat bei meiner langatmigen Rede keine Mine verzogen. Ich sehe voll Schreck, sie hat wieder das kleine weiße Dreieck unter der Nase und ihre Lippen sind aufeinander gepresst: „Du … Du hast eine andere, Du liebst Renate!“ bricht es aus ihr heraus. Es ist kein Stottern, sie bekommt nur oft einfach die erste Silbe nicht heraus. „Du … Du hast eine andere, Du liebst Renate!“ wiederholt sie und wendet sich ab.

Da hatte ich mir wirklich etwas eingebrockt. „Nein!“ versichere ich und wiederhole meine ganze Rede von damals. Da ist sie wieder diese Wand und kein Durchkommen, kein Argument wird gehört, alles prallt ab - keine Kommunikation mehr. Isa steht reglos in der Mitte des Zimmers und dreht ihren Ring, der in der Mitte einen großen braun leuchtenden Bernstein hat immer um 360°, so daß der Bernstein immer wieder nach oben zeigt. Das wirkt so hilflos, daß ich sie reflexartig, wie um sie vor einer imaginären Gefahr zu schützen, in den Arm nehme. Ihre Arme und Hände sind zwischen uns, sie dreht weiterhin den Ring. Dieses Versteinern, das nicht mehr Kommunizieren und Argumente nicht rational zu erfassen, dafür muß es eine tiefere Ursache geben. Ich sehe meine Mutter vor mir, wenn sie wieder einen Anfall hatte und tagelang versteinert, nicht ansprechbar auf dem Teppich saß … und niemand hat sie in den Arm genommen, alles sind dem ausgewichen. Ich will anders sein, will es besser machen und halte Isa einfach fest in meinen Armen. Nach einiger Zeit lösen sich ihre Hände und sie umarmt auch mich. Es ist wieder warm und gut. „Wann kommt die Frau an?“ fragt Isa, als wäre nichts geschehen. „Ich hole sie um zwölf am Bahnhof ab und sie fährt gegen vier weiter“. „Dann geh Du mal zum Bäcker Kuchen kaufen und ich räume hier auf.“

Auf dem Bahnsteig erkenne ich sie schon von weitem. Nehme ihr den Koffer ab, den stellen wir in ein Schließfach. Sie trägt ein feines westdeutsches Kostüm. Unterwegs erzähle ich von mir, von der Uni, vom Taxifahren. Dann sind wir da, es kommt keine Bemerkung über die Zustände. Sie ist souverän, offen freundlich, einfach nett. Als ich ihr Isa vorstelle, umschreibe ich die Situation mit: „Wir wohnen hier zusammen.“ Ursula verliert auch darüber keine Bemerkung. Beim Kaffee berichtet sie an Isa gerichtet von Renate, die während ich noch beim Armeedienst war, ihre Lehrerausbildung am Institut für Lehrerbildung abgeschlossen hatte und als wir dann zusammen waren und ich meinen Ausreiseantrag gestellt hatte, Probleme bekam, bis ich die Verlobung aufgelöst hatte. Dann bekam sie eine Stelle als Unterstufen Lehrerin in Arnstadt. Sie schaut mich direkt an: „Als ihr Brüder im Knast ward, wurde sie mehrfach vorgeladen und nach Euch ausgefragt. Wenn der Kontakt nicht beendet wird, so drohte man ihr, darf sie nicht mehr als Lehrerin arbeiten. Jetzt will sie einen Ausreiseantrag stellen, ihr ist egal, was passiert.“ Ich versichere, Renate zu helfen, alles zu unternehmen, was man von Westdeutschland aus tun kann. „Renate möchte“, sagt Ursula „jetzt schon Paketweise ihre Sachen herschicken, ob das ginge?“ und dann ergänzt sie: „Die meisten, deren Antrag genehmigt wurde, dürften nur mit einem Koffer ausreisen“. „Nein, kein Problem, sie kann alles schicken. Ich werde es für sie aufbewahren, bis sie kommt.“

„Bringst Du mich zum Bahnhof“ fragt mich Ursula, „ich muß noch lange im Zug sitzen und möchte etwas Bewegung“. Wir laufen durch die kalte Winterluft. Noch scheint die Sonne, der Sandstein der Häuserfassaden leuchtet braungelb. Unterwegs unterhalten wir uns über die Familien, wie es allen geht. Ich erfahre, daß sie meine Eltern schon aus der Zeit in Jena kannte. Sie waren gemeinsam an der Uni, nur andere Fakultät. Unser Weg führt uns vorbei am Brazil, weiter schräg gegenüber an unserer Kneipe „Freiburg“ vorbei dann an der Hugenottenkirche zum Bahnhof. Am Brazil erzähle ich, daß ich hier gerne sitze, an der Kneipe Freiburg, deren Eingang mit Plakaten zu gekleistert ist: hier reden wir die Nächte durch, bei Bier und Currywurst und weil ich mich daran erinnere, daß sie in Eisenach im Bachchor singt erwähne ich, als wir an der Hugenottenkirche vorbei gehen: „hier in der gibt es auch Bachkonzerte.“ Als wir ihren Koffer aus dem Schließfach holen und dann auf dem Bahnsteig stehen, nimmt sie mich plötzlich in den Arm und sagt: „Es ist ein großes Glück, daß ihr das alles überstanden habt und es war richtig für Euch, abzuhauen – viel Glück – Du ernsthafter Hallodri“ und lacht.

Auf meinem Heimweg denke ich darüber nach, wieso eigentlich Renate und ich während meiner Armeezeit wieder eine Beziehung angefangen haben? Wenn ich jetzt genau über mich nachdenke, muß ich sagen, weil ich Einsam war und weil diese Nähe und Wärme mir gut tat. Aber wieso kam Renate nach Eggesin? Doch nicht aus heiterem Himmel? Wir hatten uns Jahre nicht gesehen. Ich muß sie mal danach fragen. Mir fällt auch auf, nach dem ich die Verlobung aufgelöst hatte, habe ich keinen Liebeskummer gehabt oder Sehnsucht verspürt. Es war beendet und vorbei.

Sehnsucht, das ist der Gedanke, die hatte gefehlt! Die hatte ich zu ihr nur während der Schulzeit, alles danach war keine Liebe, sondern nur Wohlfühlen. Das muß ich unbedingt Isa sagen, damit sie versteht, es war und es ist nichts mit Renate. Ich bin außer Atem, fast heim gerannt und erkläre ausführlich und mehrfach, „Ich liebe Renate nicht, sondern nur Dich!“ Aber sie hört mir nicht zu, ist abwesend, als ob sie das nicht verstehen will. Etwas traurig mache ich mich auf den Weg, die Zwo-sieben für die Nachtschicht zu übernehmen. Wenn ich wissen will, ob es Liebe ist, was ich fühle, geht es mir immer wieder durch den Kopf, muß ich auch prüfen, ob ich Sehnsucht dabei fühle.