Andorra II


England


Enttäuscht von mir? Nein! Viele verwunderte Kommentare ... „schon zurück?“, und „Ja ja, das mit den Abschleppkosten, das sei Pech“. Dabei freue ich mich insgeheim, weil ich so eine tolle Reise gewagt hatte, weil es mir gelungen war zu schreiben und weil ich wieder etwas über meine Freiheit gelernt habe.
Der Alltag kommt zurück, Geld ist ausgegeben, Konto leer. Eine Einladung vom Arbeitsamt liegt im Briefkasten. Da ich noch im Osten meinen LKW Führerschein gemacht habe, vermittelt es mich als Fahrer zu einer Möbelspedition hier im Viertel. Wir fahren mit einem großen, innen gepolsterten Möbelwagen und Anhänger hauptsächlich Umzüge für Siemens Mitarbeiter. Alles gehobene Positionen, wir verladen die Möbel aus Villen, Bungalows oder große Wohnungen und fahren durch ganz Westdeutschland. Aachen, Frankfurt/M, Bremen bis hoch nach Flensburg. Ich bin fast nur unterwegs, Stunden schrubben. Da ich von Spesen lebe, spare ich meinen Lohn. Als Isa mal meinen Lohn abholen wollte, weil ich noch auf Tour war, bekam sie ihn nicht: „wir zahlen es nicht an die Frauen aus!“ Seltsam. Mir gefällt diese Firma und auch die Arbeit nicht. Tagsüber Möbelschleppen und nachts auf der Autobahn fahren oder in der Kabine schlafen. Ich will wieder zurück an die Uni. Isas Premiere ist Freitag. Ich bin rechtzeitig von der Tour da. Unsere ganze Clique, wir fahren mit zwei Autos hin. Bei mir fährt Ingo mit, ein Kommilitone aus der Theaterwissenschaft. Wir haben uns in Seminaren gesehen. Er ist leidenschaftlicher Videofilmer und macht immer, wenn notwendig die Technik. Da ich lange nicht mehr in der Uni war, erzählt er mir von einem Ausflug, der demnächst nach München in das Filmmuseum geplant ist. Die Arbeitsgruppe fährt und Holger unser Professor hat es angeregt und organisiert. Natürlich fahr ich gerne mit.
Isas Premiere ist großartig. Die Antigone glaubwürdig, auch Kreon, aber er nicht so dominant, wie ich es gedacht hätte, daß es gut sei. Die Sprache wirkt zeitweise gestelzt, die Schauspieler bemüht. Es gibt großen und langandauernden Applaus. Wie oft bei Premieren sind viel Familie und Freunde dabei. Die kleine Premierenfeier findet im Foyer statt. Da die nächste Aufführung erst am nächsten Wochenende sei, kann Isa mit uns nach Erlangen heimfahren.

Mit Ingo treffe ich mich in der nächsten Zeit öfter. Er bringt mich auf die Idee, statt mit dem LKW Möbel zu fahren, doch wie er Taxi zu fahren. Der Gedanke gefällt mir sehr gut. Ich lerne den Stadtplan von Erlangen auswendig, Taxi Standplätze, die umgebenen Dörfer und die Hauptstrecken in Nürnberg. Dann gehe ich im Rathaus zur Ortskenntnisprüfung und bekomme meinen Personenbeförderungsschein auch Taxischein genannt. Nach drei Monaten Möbelfahren kündige ich und sattle um auf Taxi. Ein Unternehmer ist schnell gefunden. Ich fahre die zwei-sieben so müssen wir uns am Funk melden. Wir fahren nur nachts. Tagsüber ist Uni oder rumhängen. Frühmorgens, nach der Nachtschicht gehen wir manchmal noch in den „Xaver“, der bis früh um sieben Uhr offen hat. Ein Feierabend Treffpunkt der Nachtarbeiter.

Wir fahren normalerweise bis früh um fünf oder auch bis sechs Uhr. Ich meistens etwas länger, stelle mich noch morgens auf den Standplatz, von dem oft noch eine Tour zum Nürnberger Flughafen abgeht, wenn die Siemensindianer, wie wir sie nennen, den ersten Flieger nach Berlin nehmen. Erst dann gehe ich auf ein Bier in den Xaver. Die Nachtfahrer sind ein eigenes Völkchen. Zum größten Teil Studenten, viele Theaterwissenschaftler, auch einfach Leute, die mit dem Leben am Tag nicht gut zurecht kommen. Diese Nachwelt fasziniert mich. Ich lerne viele Menschen kennen, die so ganz anders sind, als normale Tagmenschen. Ein paar Tage später fahren wir als Seminargruppe, aufgeteilt auf vier Autos, zusammen nach München ins Filmmuseum. Holger gibt uns eine kurze Einführung, dann startet eine restaurierte Kopie des Klassikers von Sergei Eisenstein: „Oktober. Zehn Tage die die Welt erschüttern“. Ohne Hintergrundwissen sehe ich nur einen alten Schwarz-weiß Film. Ingo erläutert mir die ganz besonderen Stellen und stupst mich an, wenn wieder bemerkenswerte Szenen mit der neuen legendären Schnitttechnik kommen und er dirigiert mit dem Arm in der Luft, um den Rhythmus der Art Musik zum Rhythmus des Schnitts zu untermalen. Wir sind spät wieder zurück in Erlangen, aber auf ein Bier in die Freiburg, geht immer. Ingo erzählt, er ist aus Ansbach, sein Vater war Dachdeckermeister selbständig und ist leider schon früh an einem Herzinfarkt gestorben. Wenn er durch Ansbach geht, dann sieht er nicht nur die Häuser sondern auch immer die Dächer, die sein Vater gedeckt hat. Er ist Einzelkind und findet, wie wir drei Brüder zusammen sind sehr gut, so etwas hätte er auch gerne. Nach dem zweiten Bier erzählt er, er sei Kommunist und auch mal mit seiner linken Jugendgruppe nach Ostberlin gefahren. Ich versuche herauszufinden, was er unter Kommunismus versteht, aber er hat nur nebulöse Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft.

Vom Leben in Ostdeutschland hat er aber keine genaue Vorstellung. Nur das mit Volkseigentum und Sozialismus ist ihm im Ohr hängen geblieben. Ich erzähle ihm von der Diktatur der SED, der ständigen Überwachung durch die Stasi, von dem Druck schon beim Schulaufsatz wachsam zu sein und die gewünschten Formulierungen zu verwenden. Diese Salonrevolutionäre haben einen rosaroten Blick auf eine bösartige Diktatur, das erfahre ich immer wieder in Gesprächen. Da wird der Osten glorifiziert.
„Was hast du denn für eine Ahnung, was es heißt sich unterzuordnen zu müssen, um überleben zu können.“ poltere ich irgendwann los.
„Höre dir Pink Floyd: „Another Brick in the Wall“ an. „We don't need no thought control“ … das gefällt euch, das kann man gut mitsingen, wenn man im warmen Wohnzimmer sitzt.“ Schimpfe ich. „Ihr Revolutionäre in eurer heilen Welt. Das sind nur Kinderzimmerparolen ohne echten Bezug zum Leben.“
Jetzt bin ich in Rage, getroffen an einer wunden Stelle. Ich poltere weiter: „Dein Kommunismus deine goldene Zukunft bringt das Ende vom Klassenkampf? Alle Menschen sind gleich?“ Ich hole tief Luft, mache ein kleine Pause: „Das ist Quatsch, der Kommunismus hat einen gravierenden Fehler. Das Volkseigentum bewirkt, daß sich niemand mehr verantwortlich fühlt und die Eigeninitiative einschläft. dann wird der Motor der Entwicklung langsamer. Dadurch wird es den Menschen schlechter gehen, du mußt anfangen sie zum mitmachen zu zwingen und du mußt einen Zaun drumherum bauen, damit sie nicht vor deiner goldenen Zukunft abhauen. Dann hast Du es geschafft, du hast ein Gefängnis erschaffen! Wir Menschen sind Raubtiere, hauptsächlich gesteuert durch unsere Gene, wir leben keine Ideale. Wenn auf dem Weg in deinem Idealstaat, etwas Böses getan werden muß, um in ferner Zukunft das Gute zu erreichen, ist damit die erste Sünde getan. Wie bei den Dominosteinen, fällt eines am anderen, erfordert eine böse Maßnahme die Nächste und am Ende gibt es nur noch das Böse. Dann hast Du wieder eine Diktatur. Und die wird die Oberhand behalten, denn Diktaturen funktionieren aus fehlendem Widerstand gegen sie. Die Mehrheit der Menschen sind Opportunisten und Mitläufer … die tun nichts. Sie ducken sich, schweigen und machen mit. Das ist das Ende vom Weg zum goldenen Zeitalter und wie das aussieht, findest du bei Georg Orwell „1984“.“

Wir bestellen uns ein weiteres Bier. Ingo versteht, daß er an einer offenen Wunde gekratzt hat und schweigt dazu. Ich bin ruhiger und versuche meine Rage zu erklären. „So ist mein Leben. War umgeben von feigen Opportunisten, die habe ich immer verachtet. Von meinen Eltern bekam ich zum Glück die Energie und den Rückhalt, kein Opportunist zu werden. In meiner Armeezeit und dem Knast habe ich besonders zu schätzen gelernt, was Freiheit ist und wodurch sie bedroht wird. Und dann hatte ich das Glück, daß es den Häftlingsfreikauf gibt und ich herauskam. Nun kann ich mich auf den Weg machen die Ursachen zu finden. Was ist der Unterschied zwischen engagierten Bürgern und Opportunisten. Wenn ich den Schalter finde, der das Aktiv sein einschaltet, dann habe ich wohl auch einen Weg gefunden für einen Weg in eine besser Welt. Aber Kommunismus, das ist ein Irrweg.
Ingo prustet laut los: „Redest du über solche Ideen auch ohne zwei Bier ?“ „Nein,“ antworte ich ihm „ komisch finde ich meine Ansichten nicht. Dieses schwärmerische vom Sozialismus träumen und nicht sehen, der muß in einer Diktatur enden, das ärgert mich riesig.“ und um es ganz pathetisch zu machen mit Räuspern: „Ja, es ist mir ein zentraler Gedanke, über den ich oft nachdenke. Der Ursprung des Übels sind die Opportunisten. Und warum die so sind, wie sie sind, möchte ich herausfinden.“ Ich stehe auf, trinke den letzten Schluck aus meinem Glas im Stehen. „Aber ich bin sehr müde, Wir sehen uns Morgen 11:00 Uhr zur Nachbesprechung in der Uni.“
„Gute Nacht. Ich bleibe noch auf ein Bier“.

Auf dem Heimweg geht mir noch ein wichtiges Argument durch den Kopf, welches ich ihm hätte auch sagen können. Wie Demonstranten die schreiende Ungerechtigkeit in der eigenen Stadt nicht sehen, aber gegen Ungerechtigkeit, die tausende Kilometer entfernt stattfindet, auf die Straße gehen. In Berlin zum Schah Besuch 1967, demonstrierten Studenten der Berliner Freien Universität gegen den Schah und die Zustände im Iran. Keine 5 Km entfernt von der Demo waren einige Studenten der Berliner Humboldt Universität, eingesperrt bei der Stasi in der Normannenstraße wegen § 105 Staatsfeindlicher Hetze. Das hat die Studenten der Freien Universität in Berlin nicht tangiert. Das haben die nicht mal wahrgenommen. Für die Freiheit ihrer eigenen Kommilitonen in ihrer eigenen Stadt sind sie nicht auf die Straße gegangen. Mir klopft das Herz bis in den Hals, ich muß lernen, das mich das nicht dermaßen erregt. Ich will nach vorne schauen, blicke nicht zurück im Zorn.

Mein Gespartes wächst wieder auf einen Stand, der es mir erlaubt, einen nächsten Versuch zu unternehmen. Ich sehe daß es im Westen wichtig ist englisch zu können. Ich habe schon angefangen mir die Texte der Beatles zu übersetzen. Isa schenkte mir dazu einen tollen Bildband mit allen Texten. Wie Ingo, der die Texte englischer Bands, wie Jethro Tull oder Deep Purple mit Child in Time mitsingen konnte, war mein Englisch weit entfernt. Man lernt eine Sprach am besten im Land selbst. Ich strecke meine Fühler aus nach Verbindungen und Kontakten, damit ich nach England gehen kann, ohne ein Fiasko wie in Pisa zu erleben. In der Seminargruppe und auch über den Taxifunk frage ich, ob jemand eine Adresse hätte, bei der ich in England eine Weile leben und arbeiten könnte.
Nach ein paar Tagen, als ich mich abends am Funk zum Dienst anmelde: „Zentrale zwo-sieben im Dienst“ antwortet mir die Zentrale, „Hallo Zwo-Sieben, bitte bei der Drei-fünf melden, er hat eine Adresse bei einer Pottery“ „Zentrale zwo-sieben verstanden. Danke.“ Am Standplatz Lutherplatz steht Ingo mit der Eins-Neun. Ich stelle mich hinten an und steige zu ihm ins Auto. „Sag mal, was ist eine Pottery?“ Er muß lachen: „Ach du warst das gerade mit der der Adresse? Pottery ist eine Töpferei.“ Wagen Drei-fünf treffe ich später am Standplatz Bahnhof und der Fahrer, ein Jura Student erzählt von seiner kleinen Schwester, die zum Schüleraustausch in England sei und die dort bei einer Familie wohnt, die eine kleine Pottery haben. Er hätte schon mit der Schwester gesprochen, wenn ich möchte, würde er dort für mich erneut Kontakt aufnehmen. Ich bin begeistert und sage einfach zu. „Okay, dann melde ich mich in den nächsten Tagen wieder.“
„Danke und Dir einen guten Umsatz!“ „Danke ebenso guten Umsatz!“
Nach ein paar Tagen meldet er sich wieder über Funk und wir verabreden uns zum Abendessen in den Forsthof an der Gebbertstraße Ecke Feldstraße. Dort gibt es das beste Schäuferle mit einem wahrhaft riesigen Kloß dazu. Die Wirtin wußte, was sie an uns als regelmäßige Gäste hatte und verwöhnte uns. Es kam auch schon mal vor, wenn irgendwo in der Stadt ein Engpaß war, weil ein Reisebus oder eine Firmenfeier zu Ende war und zu wenig Taxen unterwegs, daß die Zentrale die Wirtin anrief und diese uns dann aufscheuchte. Es ging sehr familiär zu. Die Drei-Fünf gab mir eine Adresse in Südengland ein Dorf bei Exeter und ich könne jederzeit kommen, wenn ich mitarbeite ist Kost und Logis frei und ich bekomme Sprachunterricht. Das finde ich gut. Das ist so ähnlich wie Au Pair, das werde ich machen.

Nichts hält mich noch auf. Ich habe bestimmt eine fette Portion Nomadengene in mir. Bin ich unterwegs, fühle ich mich gut. Reisefieber ergreift mich. Den Käfer gebe ich Maximilian, er hat jetzt seinen Führerschein, die Wohnung bewohnt ja bereits Isa und mehr Eigentum, als was nicht in einen Koffer paßt, habe ich noch nicht. Bekomme am Bahnhof bei der Fahrplanauskunft eine Zugverbindung bis Calais mit Umsteigen in Köln, über Aachen und Brüssel. Wie es dann weitergeht mit der Fähre nach Dover konnte mir die Fahrplanauskunft nicht sagen. Ich bin guten Mutes, das kann ja nicht schwierig sein. Bestimmt gibt es dort viele Züge nach London und weiter nach Exeter über Bristol werde ich auch finden. Beim Geld umtauschen in der Sparkasse riet mir der Schalterbeamte, doch besser Travellerschecks zu nehmen, Da sei das Geld versichert, auch bei Diebstahl und ich könnte die bei jeder beliebigen Bank einlösen. Das finde ich sehr gut und nehme einen Teil meines Geldes in Pfund und den Rest als Travellerschecks. Ich müßte aber zwei Tage darauf warten, die würden erst in der Zentrale ausgestellt.
Alles erledigt und vorbereitet. An der Taxizentrale habe ich mich abgemeldet mit „Zwo-Sieben fährt mal zur Pottery nach Bristol“. Wenn man zweimal kurz nacheinander auf die Funktaste drückt, gibt es bei allen Taxen ein kurzes Knacken im Lautsprecher. Wir haben das oft gemacht, um zuzusagen oder irgendetwas zu bestätigen. Nach meiner Abmeldung nach Exeter knackte es ununterbrochen als dann endlich wieder Ruhe war hörte ich noch Ingos Stimme am Funk: „Zwo-sieben gute Reise und komm heil wieder heim.“
Morgen ist meine Abreise und heute Abend lade ich meine Brüder, Alma und Isa zum Essen ins Deutsche Haus zu Sulla ein.
Ganz in der Frühe mache ich mir leise Kaffee, nehme mir beim Bäcker um die Ecke ein paar belegte Semmeln als Reiseproviant mit und laufe Richtung Bahnhof. Da bleibt neben mir ein Taxi stehen und hupt. Die Tür öffnet sich: „Steig ein, ich fahre zum Bahnhof“ Es ist der Tagfahrer der Zwo-Sieben. „Das ist aber nett.“ „Ne, kein Problem, ich fahre eh zum Bahnhof. Wir haben noch keinen neuen Nachtfahrer und da fange ich früher an.“ So ein Glück, da muß ich nicht laufen. Das nehme ich mal als gutes Omen für die Reise. So bin ich überpünktlich am Bahnhof und setze mich am Bahnsteig auf eine Bank. Am Bahnhof fällt mir der Unterschied zu Ostdeutschland noch mal besonders auf. Hier ist alles so sauber, ordentlich und gepflegt. Der Bahnhof von Eisenach war mit herabfallendem Putz an den Wänden, zerschlissenen Hinweisschildern und schrecklich weit stinkenden Toiletten reparaturbedürftig. Bei den Pendeltüren am Hauptausgang waren die Türen unten von vielen Fußtritten schwarz und die Fenster zerbrochen. Dann fuhren oft noch Dampfloks, dann Dieselloks aber kaum eine Strecke war Elektrifiziert. Hier sehe ich eine Hinweistafel „Würzburg Frankfurt/M Köln“ und darunter gut lesbar in großen Lettern die Uhrzeit: „Abfahrt 8:12 Uhr“ Die Lautsprecherdurchsage scheppert und knattert nicht, ist deutlich zu verstehen: „Achtung zurücktreten der Zug aus Passau über Nürnberg zur Weiterfahrt nach Köln, fährt ein. Fast lautlos gleitet der Zug heran. Eine große grüne Elektrolok zieht den endlos langen Zug. Ich steige ein, der Zug ist nur mäßig besetzt. Ich habe ein Abteil für mich. Die Sitze lassen sich verstellen, sodaß ich, wenn ich die Schuhe ausziehe, meine Füße auf den Sitz gegenüber hochlegen kann. Sehr gemütlich und mit einer Wurstsemmel in der Hand genieße ich die Fahrt. Dieser Zug ist eine ganz andere Generation von Technik. Es schüttelt und rattert nicht mehr, das Rhythmische Klack Klack auf den Schienenübergängen gibt es nicht mehr. Die Schienen sind verschweißt. Der Zug saust mit sehr hoher Geschwindigkeit durch die Landschaft. Wir erreichen die Fränkische Weinlandschaft. An der Südseite der Hänge sind überall Weinstöcke gepflanzt. Diese Zugreise ist einfach purer Genuß. Meine Fahrkarte ist auch keine drei mal 5 Zentimeter große Pappkarte mehr, sondern in einem kleinen Heftchen ein längliches Ticket darauf steht: „Erlangen Köln Brüssel Calais“. Meine letzte Bahnreise war die mit dem „Grotewohl Express“ von Erfurt über Weimar nach Cottbus. Ein Unterschied, nicht nur ein andere Planet, sondern ein anderes Sonnensystem. Und ich sitze hier drin und kann es genießen. Ich erinnere mich zurück an meine Gefühle, als ich noch jenseits des Eisernen Vorhangs eingesperrt war und mich als ein Mensch 2. Klasse gefühlt habe, nun bin ich auch ein privilegierter Mensch, darf mich auf dem Planeten frei bewegen. Ich fühle etwas, als ob ich mich zu Unrecht freue, als ob es schäbig von mir ist, wenn ich mich hier so freue. Als ob ich das nicht dürfe. Sind das noch Fäden, die mich mit den zurückgebliebenen verbinden und ich darf mich nicht freuen, weil die nicht teilhaben können und noch immer eingesperrt sind? Ich kann es nicht genau beschreiben, fühle in meiner Freude diesen Wermutstropfen. Was ist das, daß ich mich nicht zu 100% freuen darf, so ganz ohne schlechtes Gewissen? Ich bin doch denen, die noch drüben sind, nichts schuldig? Renate kommt mir in den Sinn. Ich wollte mich melden, habe es immer verdrängt, nur Karten geschrieben aus der weiten Welt.
Nach etwas über vier Stunden und sind wir in Köln. Hier muß ich umsteigen und habe die Möglichkeit einen Zug später zu nehmen und dadurch eine große Pause, denn ich will unbedingt, kann nicht genau sagen warum, aber ich will unbedingt an den Rhein. Und als ich aus dem Bahnhof herauskomme und vor dem riesigen Dom stehe, das ist schon echt irre, was man vor sieben hundert Jahren schon bauen konnte. Aber mehr als dieses Erstaunen habe ich nicht für ihn übrig. Ich gehe hinab zum Fluß und muß dann eine Weile Stromabwärts laufen, bis ich endlich an eine Stelle komme, wo ich über viele Steine direkt ans Wasser gelange. Ich ziehe meine Schuhe und Strümpfe aus, krempele die Hose hoch und setze mich auf die Steine, mit meinen Füßen im Wasser. Das ist also der Rhein. Breit mächtig ruhig gemächlich fließt er dahin. Es ist doch nur ein Fluß, grau braune Brühe und trotzdem fühle ich mich wie an einem besonderen Ort. Ein Lastkahn schiebt sich schwerfällig stromaufwärts. Vom Schiff winkt jemand zu mir herüber, ich winke zurück. Ich bleibe noch lange sitzen, will herausbekommen, warum mir das hier am Rhein zu sein so wichtig ist. Es gibt keine Antwort. Irgend etwas tief in mir hat das so gewollt. Ich bleibe einfach ruhig sitzen und nehme die Stimmung des stetig fließenden Wassers in mir auf.

Zurück aus meiner Träumerei muß ich mich fast beeilen, um meinen Zug nicht zu verpassen. Nach etwa zwei Stunden passiere ich Brüssel und gegen Abend bin ich in Calais - Endstation. Vom Bahnhof sind es nicht weit zu laufen. Es gibt Busse, aber ich traue mich nicht, die Sprachbarriere, ich kann nichts verstehen. So laufe ich Richtung Fähre, es sind ausreichend Schilder die mir den Weg zur „Ferry“ anzeigen. Die nächste Fähre geht erst am nächsten Morgen. Ich besorge mir etwas zu essen und mache es mir im Wartesaal am Anleger bequem. Ich bin der Einzige mit nur einer einfachen Reisetasche. Die anderen haben große moderne Rucksäcke, die nicht nur die Schulterriemen, sondern sogar welche um den Bauch haben, wohl damit man das Gewicht leichter tragen kann. Das Fährbüro hat noch geöffnet, ich kaufe mir eine Karte und bin überrascht, wie preiswert die ist. Ich stelle meine Tasche in ein Schließfach und gehe im Hafen spazieren. Hier riecht es mehr nach großer weiter Welt, als in Pisa. Zwei große Fähren liegen am Pier. Riesige Pötte, aus einem fahren in langsamer Kolonne viele Autos und über eine Brücke hinweg aus dem Hafen heraus. Nach einiger Zeit kommen viele Sattelzüge. Das nimmt und nimmt kein Ende. Dann höre ich aus der Ferne ein immer lauter werdendes Fauchen, wie ein Sturm, aber auch wie ein sehr großer Hubschrauber. Ich suche den Himmel ab, nichts ist zu sehen. Dann sehe ich am anderen Ende des Hafens etwas was wie eine große Staubwolke auf den Hafen zukommt. Es ist mehr wie ein Meeresungeheuer aus einem der Jules Verne Bücher. Eine große schwarze Flunder mit einem weißen Aufbau und vier riesigen Propeller auf dem Dach, die dieses Fauchen erzeugen. Langsam schiebt bzw schwebt das Ungeheuer vom Wasser auf das Land, hin zur die Parkplatzfläche, um dort mit einem schweren Seufzer stehen zu bleiben und sich abzusenken. Die Propeller laufen aus. Von der Seite kommt ein Servicefahrzeug und fährt, wie an ein Flugzeug eine Leiter zum Aussteigen an das Meeresungeheuer heran. Passagiere steigen aus und gehen hinüber zum Fährbüro und dem Ausgang des Hafens. Mir ist schon klar, das ist kein Ungeheuer, sondern ein Luftkissenboot, die berühmte Hovercraft, die super schnell den Ärmelkanal überquert. Denke ich zurück an die alten Eisenbahnzüge, die Zweitakt Autos mit den stinkenden Abgasen im Osten und hier diese moderne Technik, dann, ja dann bei diesem Unterschied ist es deutlich, die Diktatur wird immer an sich selber ersticken und zugrunde gehen, denn sie ist der Freiheit immer unterlegen.

Ich ärgere mich über mein Gehirn. Muß ich immer an diese ollen Kamellen denken, kann ich das nicht loslassen, kann ich nicht einfach an ganz andere Dinge denken? Wie frei bin ich in mir? Mein Gehirn diktiert mir, was ich denken muß. Mist elender! Ich gehe zurück zur Wartehalle, kaufe am Kiosk eine Flasche Bier und eine deutsche Zeitung und lege mich weit hinten in der Halle auf eine Bank.
Sehr früh bin ich wach. Bei den Toiletten gibt es auch einen Waschraum. Alles ist picobello sauber. Am Kiosk gibt es Kaffee und Croissants und die sind hier einfach eine Wucht, ich hole mir sofort noch eines. Dann kommt eine Lautsprecherdurchsage auf französisch und englisch aber beides unverständlich. An der Reaktion der Rucksacktouristen, die aufstehen und Richtung Fähre gehen, sehe ich, es geht los. Ich packe meine Sachen und laufe hinterher. An der Fähre steht auf der Rampe ein Matrose und kontrolliert die Tickets, dann weist er den Weg zu einer Treppe an der es auf die oberen Decks geht. Ich laufe die Treppen hoch über mehrere Etagen, vorbei an einem Zwischendeck für Passagiere mit Sesseln und Tischen, bis ich auf das Oberdeck komme und einen Rundblick über den gesamten Hafen habe. Ich kann die Bahnhofshalle sehen, die großen Parkplätze mit den wartenden PKWs und daneben LKW hauptsächlich Sattelschlepper. Dazwischen ist eine Schlange Wohnmobile. Ein großes Wohlfühlen breitet sich in mir aus. Ein tiefes Glück, den Blick in die Ferne. Das Schiff beginnt zu vibrieren, die Motoren laufen an, die Heckklappe wird langsam hochgezogen. Am Pier lösen sie die Leinen am Heck entsteht ein großer Wasserstrudel und langsam legen wir ab. So wie sich ein kleiner Junge, der zu Weihnachten den sehnlichst erwünschten Baukasten bekommt freut, so freue ich mich über dieses Reise Abenteuer Gefühl auf der Fähre, auf dem Meer. Meine Nomadengene jubeln.
Nach gut 90 Minuten bin ich in Dover. Aussteigen, Paßkontrolle, der Beamte schaut in meinen Paß und fragt mich „East or Westgermany“. Ich bin total perplex, hat es hier je einen Ostdeutschen gegeben, der frei reisen durfte? „Westgermany of course“, er stempelt den Paß und ich darf weiter, suche den Bahnhof und kaufe eine Karte nach Exeter. Ich muß nach London und dort umsteigen. Der Fahrkartenverkäufer ist sehr nett und spricht für mich extrem langsam und schreibt es mir genau auf. Ich zahle in Pfund. Jede Stunde fährt ein Zug und die Reise dauert 2,5 Stunden. Die Waggons sind irgendwie anders. Britisch, schon die Griffe an den Waggontüren sind verschnörkelt, die Schilder am Bahnsteig, alles macht den Eindruck es sei gediegen. Es ist ein sehr grünes hügeliges Land durch das der Zug kommt. Als der Zug auf London zukommt und in den Vororten die Fahrt verlangsamt, sehe ich im Vorbeifahren, wie eine junge Frau nackt auf ihren kleinen Balkon heraustritt, sich in der Morgensonne dehnt und steckt. Welch eine wunderbare Begrüßung, das ist bestimmt ein gutes Omen. In London komme ich an der Paddington Station an und nutze die Wartezeit für meinen Anschlußzug zu einem Gang in die Stadt. Weiße Häuser mit kleinen Vorgärten an denen übermannshohe schwarze Eisengitter sind. Alles ist sehr sehr sauber. Die Eisengitter glänzen wie frisch staubgewischt. Ich laufe im Eilgang Richtung Hydepark, an der Speakers’ Corner vorbei, zur St. Martin in the Fields vorbei. Hier also sind die vielen Konzerte, die ich als Kind im Radio gehört hatte. Hineingehen habe ich keine Lust und auch keine Zeit. Und dann zur Carnaby Street. Wie ist der Witz? Ach du hast auch einen Onkel in Amerika, dann müßten wir uns doch kennen …. in der Carnaby Street treffe ich einen Häftling aus der anderen Schicht, wir sind uns ab und zu am gemeinsamen Freigang am Wochenende begegnet. So klein ist die Welt tatsächlich. Wir müssen beide lachen. Er ist nicht allein, ist mit seinem Freund unterwegs. Sie gehen Hand in Hand. Als er meine Verwunderung sieht sagt er, ja das war mein Hauptgrund abzuhauen, endlich mich nicht verstecken zu müssen. Wir tauschen schnell die Tel nummern aus, ich muß weiter, mein Zug geht bald. Mein Zug fährt in 30 Minuten und die Reise dauert fast 5 Stunden über Bristol. Ich suche nach ein paar Pence und rufe dort an. Es sind ganz andere Geräusche für Freizeichen. Dann hebt jemand ab. „Hello?“ „Hallo“ antworte ich. Dann höre ich nur „Just a moment please“ und nach einer Weile meldet sich ein junges Mädchen. „Hallo, ich bin das Au Pair, wo steckst Du?“ „Ich bin noch in Paddington und in etwa fünf Stunden bei Euch in Exeter“ Das ist aber spät, da fährt kein Bus mehr. Wir holen Dich ab, sonst findest du uns nie und nimmer.“ „Super danke, dann see you later“ „Ja, bis später“. Das beruhigt mich sehr, ich werde abgeholt. Gegen 22:00 Uhr bin ich in Exeter. Wir finden uns auf Anhieb und einen ersten Lacher gibt es, als ich auf der Fahrerseite einsteigen will. Schnell gehe ich ums Auto herum und steige rechts ein. Sie haben mir noch etwas vom Abendbrot aufgehoben. Wir sitzen am großen Eßtisch im Wohnzimmer und Beate, das Au Pair übersetzt. Ich habe ein eigenes Zimmer draußen über dem Lagerhaus und morgen kann ich mich erst mal umschauen und dann sehen wir, wo ich arbeiten soll. Mein Zimmer ist karg, ein Bett, Schrank und ein kleiner Schreibtisch vor dem Fenster. Bad und Dusche ist im Haupthaus. Es gefällt mir. Die Arbeit stellt sich als sehr einfach heraus. Ich muß nur helfen, ganz vorsichtig mit einer Spezialschubkarre halbfertige Tonsachen in eine andere Halle zu bringen, mal das Auto mit be- oder entladen. Sie sprechen ein mir unverständliches Englisch. Alles ist irgendwie genuschelt. Ich lerne zusammen mit Beate, aber ihr Englisch ist viel besser, ich bin blutiger Anfänger. Das paßt nicht für gemeinsames Lernen. An das Nuscheln würde ich mich gewöhnen, sagt sie, das versteht man irgendwann. Aber auch unsere Gasteltern sehen, daß ich den halben Tag nichts zu tun habe, weil ich meine Arbeiten schnell erledige. Nach einer Woche fragt mich der Hausherr, Beate muß noch helfen bei der Verständigung. Sie hätten Freunde in Chittlehamholt, das sei ein paar Meilen entfernt Richtung Barnstaple und die hätten ein Gasthaus. Wenn ich die Zimmer Putze und abends in der Küche mit dem Abwasch helfe, würden Sie mich abholen und ich bekäme auch Unterricht. Da willige ich sofort ein.

Drei Tage später werde ich abgeholt. Ein großer hagerer Mann mittleren Alters mit seinem Austin Kombi kommt auf den Hof. Wir begrüßen uns. „I’am Harry“. „I’am Theo“ Er hat einen festen angenehmen Händedruck. Schnell sind meine Sachen gepackt und die Verabschiedung erledigt. Auch jetzt will ich wieder auf der Fahrerseite einsteigen, merke es aber rechtzeitig und laufe um das Auto herum. Dafür, daß es ein einfaches Modell ist, sieht es innen wirklich edel aus, sogar das Armaturenbrett ist aus poliertem Holz. Alles sehr verspielt und verschnörkelt. Wir verstehen uns gut. Harry spricht für mich extra langsam, nur in Hauptwörtern und viel Zeichensprache. Eine Stunde Fahrt und ich zucke immer zusammen, wenn Gegenverkehr kommt. Es ist ein abseits gelegenes Landhaus aus grauen Steinen mit Fenstern, die alle in kleine Vierecke unterteilt sind. Ein Nebengebäude, sieht aus wie ein Stall. Drumherum ein paar Wiesen. Was ich sehr befremdlich finde, um alle Wiesen sind große Steinmauern als Zaun aufgeschichtet. So daß sich zwischen den Feldern nur schmale Wege ergeben und an den Ecken ein Eingang, damit man auf die Felder kommt. Wir werden von einem Golden Retriever Mischling stürmisch begrüßt. Dann gehen wir durch den Haupteingang in das kleine Hotel. Ein Empfangsraum, mit einer Sitzecke. Die Sessel mit Brokatstoff bezogen und Kordeln um den Saum. An den Wänden Pferdestiche, ein kleiner Tresen mit einem Bord für die Zimmerschlüssel. Ich bekomme eines der Gästezimmer, habe sogar Fernsehen. Im Zimmer ein Waschbecken, das Klo und die Dusche auf dem Flur. Harry zeigt mir alles und deutet auf das Bett: „Kingsize“. Ich sehe nur ein normales Doppelbett und nichts königliches daran. Mein Fenster muß man zum Öffnen hochschieben, dann habe ich eine schöne Aussicht auf die umliegenden Felder. Auf dem Flur sind noch 5 weitere Gästezimmern und unten gibt es ein Speisezimmer und einen Salon natürlich mit Kamin. Dann zeigt er mir die Küche. Hier ist seine Frau am Vorbereiten für den Dinner.
„Carol“ sagt sie und weil sie die Hände voll Teig hat, hält sie mir zur Begrüßung ihren Ellbogen hin. „Theo“ antworte ich und stoße auch mit meinem Ellbogen gegen ihren. Die Küche ist eigentlich zu klein, als daß zwei Personen darin arbeiten könnten. Der Herd und die Anrichte stehen eng beieinander. Zwei große Regale mit Geschirr oben und Töpfen unten. Dann geht es durch eine kleine Tür in die Speisekammer. Eine Ecke ist wohl dann meine Ecke. Dort sind die Becken für den Abwasch und der kleine Tisch für das ankommende Geschirr.

Ich habe Abwaschdienst von 19:00 Uhr Dinner bis das Dessert vorbei ist, dann gehen die Gäste auf einen Drink in den Salon und ich kann die Tische abräumen. Am Morgen das Frühstücksgeschirr, dann die Zimmer putzen und ansonsten hätte ich frei. Ich bekomme ein Notizbuch in die Hand gedrückt. Da soll ich alle Wörter reinschreiben, die ich nicht verstehe. Die werden mir am nächsten Tag erklärt und die habe ich zu lernen. Dann zeigt Carol noch auf den Hund „his name is Borg“ und dann zeigt sie zum Fenster hinaus zu einer auf der Wiese weidenden Kuh, „her name is Borga“. Es ist noch lange hin, bis zum Dinner ich werde einen Spaziergang um die Farm machen. Ich habe nur meine alten Schuhe aus dem Osten und die Turn- bzw Tennisschuhe aus Kassel. Ich sollte mir Gummistiefel besorgen. Aber erst mal muß es so gehen. Ich freue mich, hier fühle ich mich wohl. Als ich herauskomme und zum Gartentor gehe, springt Borg um mich herum, er möchte mitkommen. Ich sehe Carol am Küchenfenster, sie winkt mir zu, daß Borg gerne mitkommen kann. Leine und Halsband gibt es nicht, kennt er nicht, also gehen wir ohne los. Abhauen kann er nicht, es sind überall Mauern und alle Wege nur schmale Gassen. Ich möchte irgendeinen höheren Punkt finden, um einen Rundblick zu haben, aber leider finde ich nichts. Auch ein Rundweg ist nicht möglich. Es ist wie ein Labyrinth und an Wanderer, die mal auf einer Bank sitzen möchten, ist überhaupt nicht gedacht. Borg läuft auch nur ein paar Schritte voran und schaut sich immer nach mir um, ob ich auch mitkomme. Irgendwann breche ich den Spaziergang ab, es gibt keine Möglichkeit über die Felder zu gehen oder in den Wald. Wir gehen zurück. Am Tresen steht ein Ständer mit Ansichtskarten, alles Bilder dieses Landhotels. Ich nehme mir drei Stück, lege Harry eine Notiz hin, daß ich die genommen habe und geh auf mein Zimmer.

Die Tage verlaufen fast alle gleich. Auch Samstag und Sonntag sind oft Gäste da. Aber es gibt auch Tage, da sind alle Zimmer leer. Mein Vokabel lernen kommt gut voran. Ich mache mir einen Zettel mit Englisch – Deutsch und den hefte ich an die Wand über mein Abwaschbecken. So kann ich gut lernen. Carol nimmt sich in Zeiten, wenn wir etwas Luft haben, meine Zettel vor und fragt mich die Vokabeln ab und hilft bei der Aussprache. Manche Zuweisungen sind so stark im Gehirn verdrahtet, daß ich sie wegen der Klangähnlicheit ständig verwechsle. So nehme ich „become“ nie für werden, sonder immer für kommen. Nach einiger Zeit kenne ich alle Vokabeln, die man in der Küche braucht. Nachmittags schaue ich oft Fernsehen. Die Nachmittagssendungen sind super komisch.Viel Sportsendungen. Da werden Schafe von einem Schäfer, der nur seinen Hunden Anweisungen gibt über einen Parcours geführt. Viel Tennis. Bei einer Sendung muß ich brüllend loslachen. Die Spieler hatten einen langen Ballwechsel. Der Reporter sagte nichts mehr, man hört lange nur die Ballgeräusche und auf einmal ein Schmetterball. Darauf der Reporter wie bei einem tiefen Seufzer „magnificent“. Dieses „herrlich“ muß ich nicht lernen, das prägt sich sofort ein.

Im Dorf hat es sich herumgesprochen, daß im Landhotel jemand ist, der gerne mitarbeitet. So kommen zu Harry Anfragen und ab und zu holt mich ein Bauer oder Schäfer ab und ich helfe Stroh, Heu oder Rüben zu ernten oder Schafe in die Pferch treiben und Klauen putzen etc. Ich bekomme etwas Geld und Abends im „Exeter Inn“, der einzige Pub im Dorf spendiert mir der Bauer bzw Schäfer dann das Bier. Und im Pup wissen alle, daß ich zum Sprache lernen hier bin und so habe ich nach einiger Zeit auch im Pup eine kleine Tafel am Tresen, auf der mir die Gäste Wörter aufschreiben, die ich nicht kannte oder nicht verstanden habe. Und ein paar Tage später werde ich auch abgefragt. Nach einiger Zeit bekomme ich mein Pint auch mit Blume, nachdem sie mir unter Anteilnahme und lautem Lachen erklärt haben, daß die Blume auf dem Bier eigentlich hier Hut heißt und das Pint immer randvoll ausgeschenkt wird. Aber von jetzt an bekomme ich mein Bier immer mit „Head“. Am Stammtisch sitzen ein paar Kriegsveteranen und schimpfen über mich, man solle doch den Kraut kein Bier geben. Sie hätten noch gegen die Krauts gekämpft. Ich hätte hier drin nichts zu suchen. Ich werde von den Jüngeren verteidigt, Kinder seien nicht verantwortlich für ihre Väter und Großväter.

Damit ich nicht auf dem Gasthof festsitze und mobiler bin, will ich mir ein Moped kaufen. Harry frage ich, ob er mir dabei helfen könne. Er findet das auch gut und schlägt vor, da er sich auch ein Moped kaufen wollte, das Moped gleich auf seinen Namen zu kaufen er würde es mir bei meiner Abreise abkaufen. Wir finden in einer Zeitungsannonce eine Honda-50 für 50 Pfund. Die haben wir gekauft, ich habe es bezahlt. Ich beginne die Umgebung auszukundschaften. Fahre erst bis South Molton und später bis ans Meer nach Barnstaple. Vor South Molton gibt es einen Kreisverkehr. Da traue ich mich nicht durchzufahren, steige vorher ab und schiebe das Moped. Die Regeln sind mir unverständlich. Alles verwirrend verkehrt herum. Oft passiert es, daß ich beim Abbiegen dann automatisch auf der rechten Straßenseite weiterfahre. Einmal bin ich in letzter Sekunde, als ich nicht mehr nach links hinüber komme, rechts in den Straßengraben gefahren. Im Pub am nächsten Tag erzählen sie unter Lachen, daß ich ruhig auf der rechten Seite fahren dürfe, sie wissen, daß ich das bin. Durch die fröhliche Stimmung kommt auch einer der Veteranen zu mir, klopfte mir auf die Schulter und sagt; „you are a bloody good kraut“. Das hatte ich schnell gelernt „bloody“ war das am meisten benutze Eigenschaftswort und konnte überall eingesetzt werden. Einmal abends nach dem Dinner, die Gäste waren bereits auf ihre Zimmer gegangen, sagt Harry, ich solle mich doch bitte zu ihm in den Salon setzen. Er schmunzelt, auf dem Tisch steht eine Flasche Sherry der gute Bristol Cream und zwei Gläser. „You need to learn how to pronounce th” und ich muß es wieder und wieder in allen möglichen Wörtern aussprechen und jedesmal einen Sherry dazu trinken. Irgendwann ist er zufrieden und wir haben einen gehörigen Schwips.

Mit Isa schreibe ich mir Briefe. Die sind jeweils fast eine Woche unterwegs. Sie schreibt von einer Idee, im Anschluß an meinen England Aufenthalt nach Kanada zu ihren Eltern zu reisen. In London gibt es eine Fluggesellschaft, „Freddy Laker Skytrain“, der fliegt zu sensationell günstigen Preis nach New York. Wir müssen nach London, dort im Büro buchen, bezahlen, dann warten bis das Flugzeug ausgebucht ist und dann geht es los. Wir müssen deshalb jeden Tag im Büro nachfragen, wann das Flugzeug geht. Das Ticket (Essen extra) kostet 275 DM. Da ich durch meine zusätzliche Arbeit sogar Geld einnehme und keine Ausgaben habe, reicht mein Geld sogar für uns beide für dieses Abenteuer. Ich erzähle Harry und Carol davon. Sie finden die Idee toll. Ich spüre, so wie sie sich dabei ansehen und dabei „ja die jungen Leute heute“ sagen, daß sie etwas neidisch auf unseren Mut und unsere Möglichkeiten sind. „Wir können nicht einfach hier weg, wer kümmert sich um das Hotel und um Borg und Borga?“ „Sag deiner Freundin, wir würden sie herzlich einladen herzukommen und ein paar Tage zu bleiben. Dann könnt ihr gemeinsam nach London abreisen.“

Das entwickelt sich vorzüglich. Ich schreibe an Isa, daß ich das ganz toll finde und gerne mitmache … und viele Grüße von Harry und Carol, du bist herzlich eingeladen hier ein paar Tage hier zu verbringen.
Nach ein paar Wochen und einigen Briefen, steht in dem Brief ein Termin für ihre Ankunft. Aber nur das Datum und kein wann und wo. Ich denke, sie wird mich bestimmt vom Bahnhof aus anrufen, damit wir sie abholen können. Es klingelt kein Telephon. Erst spät am Abend klingelt es an der Empfangstür, ein Taxi steht da und Isa bittet mich, sie hätte kein Geld mehr, würde mir das später erklären, und bittet mich das Taxi zu bezahlen. Ich renne in mein Zimmer und hole das Geld und zahle für 50 Km Taxis vom Bahnhof Exeter bis hierher. Dann ist erst mal Harry und Carol da, bitten uns zur Begrüßung auf einen Drink in den Salon. Sie geben mir für den morgigen Tag frei. Danach können wir uns zurückziehen und uns erst mal richtig begrüßen. Isa berichtet, sie sei mit dem Flugzeug gekommen und hätte Luton und Heathrow verwechselt und sich ein Taxi genommen, weil sie dachte es sei nur eine kurze Strecke und dann ist der Fahrer auf die Autobahn gefahren und war über eine Stunde unterwegs. „Da ist fast mein ganzes Geld drauf gegangen.“

Wir bleiben den ersten Tag einfach im Bett. Harry schmunzelt, als wir kurz zum Frühstück in den Salon kommen. Die nächsten Tage sind wir Nachmittags mit dem Moped unterwegs. Einmal fahren wir bis Barnstaple an den Strand und ich kann kurz im Meer schwimmen. Es ist wie eine Liste abhaken, Ich war in Nord- und Ostsee, im Mittelmeer und nun auch schon im Atlantik. Es ist ein ganz anderes Gefühl, kälter salziger und viel wuchtigere Wellen. Ich spüre die Weite, die mehreren tausend Kilometer, die es bis zum nächsten Ufer sind. Isa bringt mir Englische Grammatik bei. Vergangenheit und Zukunft zu bilden, die unregelmäßigen Tätigkeitswörter zu beachten und vieles mehr. Nach einer Woche reisen wir ab. Carol gibt mir das Geld fürs Moped und noch einen kleinen Bonus dazu. Harry fährt und mit dem Auto zum Bahnhof. Am Bahnsteig habe ich wieder dieses gewisse Kribbeln, meine Vorfreude auf eine weite Reise. „Auf nach Amerika“ sage ich zu Isa und wir stehen Hand in Hand und warten auf den Zug.

Im Zug lehnt sich Isa an mich und schläft. Ich überlege, warum ich das Reisen, das Durchfahren von großen Entfernungen, von richtig vielen Kilometern, als etwas angenehm Gutes empfinde? Ist es das, daß man das als besonders empfindet, was man nicht hatte? War es mein Eingesperrt sein, daß ich das Reisen liebe oder habe ich wirklich eine gute Portion Nomaden Gene in mir? Der Duft Isas Haare steigt zu mir auf. Das löst auch jetzt starke Gefühle in mir aus, wie damals im Urtaumel unserer ersten Nacht. Ist das etwas Besonderes oder einfach ein uralter Mechanismus, der in mir und auch in allen Säugetieren wirkt? Auch, daß sich Isa eben meinen Arm genommen hat und darin Bequemlichkeit, Stütze und Schutz gefunden hat, hat auch in mir ein großes warmes Gefühl von Liebe ausgelöst. Ist Liebe ein mächtiges romantisches Gefühl oder einfach nur die Summe einer Addition vieler Einzelelemente? In London finden mir mit Hilfe des Telephonbuchs die Adresse des Skytrain Büros. Es ist zum Glück ganz in der Nähe der Paddington Station. Das Büro ist nicht besonders groß, hat zwei Schreibtische auf der einen Seite und an der anderen ein paar Plastikstühle. An den Wänden Bilder der Flugzeuge. Wir kaufen uns für den nächsten Flug nach New York, Jfk Airport die Tickets, werden gefragt, ob wir warmes Essen für umgerechnet 5 DM oder nur Stullen für umgerechnet 3 DM extra haben möchten. Dann dürfen wir unser Gepäck im Nebenraum abstellen und sollen morgen früh wieder kommen und nach dem Abflug fragen, der Flug wäre, wenn bis dahin alle Tickets verkauft sind, wahrscheinlich schon morgen Nachmittag. Den Nachmittag verbringen wir mit Bummeln durch die Stadt. In einem US-Army-Shop kaufen wir uns einen warmen Schlafsack und eine Matte zum drunter legen, denn wir wollen im Hyde-Park auf einer Wiese schlafen und für den Abend noch Baguette, Käse, eine dicke Kerze und eine Flasche Wein.

Den Abend verbringen wir gemütlich im Hyde Park auf der Matte und dem Schlafsack sitzend an einen Baum gelehnt. Wir haben den Wein geöffnet, trinken aus der Flasche und essen Baguette mit Käse dazu. Es ist wild romantisch, kein Dach über dem Kopf, auch kein Zelt, nur die Sterne. Als es ganz dunkel ist, kriechen wir zusammen in den Schlafsack. Er hat Platz für uns beide. Es ist sehr schön und vertraut, so eng beieinander zu liegen. Wir sind gerade am Einschlafen, als grelle Taschenlampen uns ins Gesicht leuchten. „Halt, wer ist da“ rufe ich vor Schreck auch noch auf Deutsch und komme aus dem Schlafsack heraus. Es sind zwei Bobbys. Sie wollen uns nicht kontrollieren, wollen keine Papiere sehen, sie machen uns darauf aufmerksam, daß das hier die Ecke der Schwulen sei, ob wir nicht besser woanders schlafen wollen? Und dann gehen Sie weiter. Polizei, vor der ich keine Angst haben muß, die mich nicht kontrolliert, sondern beschützt! Hätte ich so in Ostberlin im Park geschlafen, wäre ich jetzt für eine Nacht in eine Zelle gewandert und hätte einen Eintrag in meine Personalakte bekommen. An diesen Dingen erkennt man den Unterschied zu einer Diktatur. Es dauert lange, bis wir einschlafen können.

Das Aufwachen ist wunderschön. Ein paar Vögel singen, Isa schläft noch, alles ist vom Tau etwas feucht. Ich versuche so vorsichtig wie möglich aus dem Schlafsack herauszukommen, ohne dabei Isa zu wecken. Aber sie wacht trotzdem auf. Wir räumen zusammen und machen uns auf den Weg zum Skytrain Büro. Dort dürfen wir im Waschraum Zähne putzen und bekommen einen Kaffee. Das Flugzeug ist jetzt ausgebucht und fliegt heute am Nachmittag um 15:00 Uhr am Flughafen London Luton. Wir sollen bitte schon 13:00 Uhr da sein zum Check in. So bleiben uns noch zwei Stunden in London und dann machen wir uns auf den Weg, mit der Bahn nach Luton. Am Flughafen sehen wir die große Dreistrahlige DC-10 stehen. Wieder erinnere ich mich kurz an meinen letzten Flug, als mich die Stasi von Budapest nach Ostberlin geholt hatte mit einer Zweistrahligen Iljuschin und dieser entsetzliche Landeanflug, als sich die Maschine einfach vom Himmel herabfallen ließ, um nur kurz über dem Boden für die Landung noch mal Schub zu erzeugen. Ein Bus bringt uns zur Maschine. Dann der Abflug. Wir sitzen Hand in Hand und sehen durch das kleine runde Fenster Europa unter uns immer kleiner werden.