16 Kanada

Isa
liegt halb aufgedeckt auf dem großen Bett und schläft tief und fest. Es war eine lange Reise und davor die unbequeme Nacht im Hyde Park. Wir sind in New York, haben ein einfaches Hotelzimmer gefunden. Dunkelbraune Möbel, ein irgendwie Teppichboden. Unsere Etage weit oben, vom Straßenlärm ist nichts zu hören. Als wir ins Zimmer kamen lief der Fernseher, unter dem Fenster klappert eine Klimaanlage. Isa ist sofort unter die Dusche und ins Bett gegangen. Ich habe es mir im Sessel bequem gemacht, bin auch müde, kann leider nicht schlafen: die Zeitverschiebung. Ich hänge noch meinen mir während des Flugs gekommenen Gedanken nach. Wie klein unsere Erde ist, wie schnell ich von einen auf den anderen Kontinent komme. Und daß ich, während ich weit oben in der Luft durch das Bullaugen Fenster hinab schaute, einen Schmerz, einen heftigen Stich spürte. Es stieg in mir für einen Moment körperlich spürbar, die Erinnerung an meine Ohnmacht, an die Zeit hinter Stacheldraht auf. Warum? Als ob meine Seele aufstoßen muß, so wie es mein Magen tut, wenn ich etwas Falsches gegessen habe? Aber warum? … es ist doch vorbei! Ob das irgendwann aufhört?
Der Portier an der Rezeption hatte uns gute Ratschläge gegeben, wir sollten morgen zum zentralen Busbahnhof, hier gleich zwei Block weiter gehen und mit dem Bus bis zur nächsten Kleinstadt fahren. Dort würden wir besser per Anhalter weiterkommen. Bleiben wollen wir auch nicht, hier ist es für unser Budget zu teuer. Irgendwie bin ich dann auch ins Bett bzw. habe mich aufs Bett gelegt. Das leise Summen und Klappern der Klimaanlage hat es wohl geschafft, ich bin eingeschlafen.
Wir sind früh wach, machen uns bald auf den Weg, unsere innere Uhr tickt noch nach europäische Zeit. Beim Frühstück habe ich noch lästernd gedacht, von dem Kaffee könnte man einen Eimer voll austrinken und der würde einen trotzdem nicht wach machen. Wie ich sehe hat Isa damit Erfahrung, denn sie hat sich einen Tee geholt. Wir machen uns für unterwegs noch zwei Sandwich extra und dann gehen wir los zum zentralen Busbahnhof. Ist tatsächlich nur eine halbe Stunde zu laufen und er ist so riesig groß, etwa wie der Hafen in Calais.
Große Schilder über den Fahrkartenschaltern zeigen den Zielort an. Am Schalter für „Richtung Buffalo“ kaufen wir zwei Fahrkarten, aber nehmen nur bis in die nächstgelegene Kleinstadt. Dann gehen wir durch eine große Tür mit einer Fahrkartenkontrolle hinaus zu den Bahnsteigen. Hier stehen nach Nummern und Buchstaben geordnet diese silbernen schnittigen Busse, Greyhounds, mit ihrem langgestrecktem Windhundlogo. Es ist ein wummerndes Dröhnen, da alle, wegen der Klimaanlagen, ihre Motoren laufen lassen. Der Klang der Motoren ist anders, viel runder und weicher. Beim Einsteigen werden die Fahrkarten erneut kontrolliert und dann sitzen wir drin. Weiche Polstersitze, Armlehnen, alles mehr wie im Flugzeug, denn in einem Bus. Nach einer halben Stunde, nur halbvoll besetzt, geht es los. Durch die Häuserschluchten, dann auf einer sechsspurigen Autobahnbrücke über den Hudson. Weit links in der Ferne sehen wir die große Statue mit ihrer Fackel. Isa bemerkt, daß mich das berührt und drückt mir die Hand. Wir sind nur knapp eine Stunde unterwegs, dann fahren wir von der Autobahn ab in eine Stadt. Wieder ein Busbahnhof, aber nur drei Bahnsteige breit. Der Schaffner macht uns darauf aufmerksam, daß das unser Zielort sei und wir steigen aus und er hilft uns noch, unser Gepäck aus den Seitenfächern herauszuholen.
Wie wir so herumstehen und nach Möglichkeiten suchen, wie wir zurück zur Autobahn zum Trampen kommen könnten, höre ich ganz in der Nähe vertraute deutsche Klänge. Aus einem Reisebus steigt eine Gruppe älterer Menschen. Sie unterhalten sich auf deutsch. Der Bus hat ein Kennzeichen aus Ontario. Da wollen wir ja hin … ob Fortuna uns hold ist? Ich gehe auf eine alte Dame mit riesig hochtupierten silbernen Haaren zu und spreche sie auf deutsch an, wohin sie fahren? … Fortuna ist uns hold. Sie fahren heim nach Kitchener und als ich erzähle, wir sind Studenten aus Deutschland und wollen zu den Eltern nach Kanada, dürfen wir mitkommen. Wir sollen aufpassen, wenn alle wieder einsteigen, dann geht es los. Bis dahin seien sie in der kleinen Gaststätte, Rast machen. Wir gehen auch ins Restaurant. Es ist eine Mischung aus Imbiß und Gaststätte. Am Tresen hole ich uns zwei große Coca Cola und bekomme zwei große Pappbecher mit Coca Cola und darin je ein riesen­großer, schokoladentafel förmiger, mit vielen Schlitzen versehener Eiswürfel. Wir setzen uns an einen kleinen Tisch am Fenster und als ich den ersten Schluck nehme, ist er so umwerfend erfrischend, wie ein eisiger Sog, daß ich fast nicht aufhören kann, ich muß weiter trinken. Als ob die Cola auf einen Schluck ausgetrunken werden möchte. So eine leckere erfrischende Cola habe ich noch nie getrunken. Wie ein frischer Wasserfall durch meinen Hals in den Magen. Isa trinkt mit dem Strohhalm, sie kann meine Begeisterung nicht verstehen. Nach einiger Zeit sammelt sich die Reisegruppe auch schon. Alle waren mal um die Ecke und gehen langsam zum Bus. Wir schließen uns an, verstauen mit Hilfe des Fahrers das Gepäck. Die Dame, die ich angesprochen hatte, dirigiert im Bus ihre Leute so, daß wir neben ihr einen Sitzplatz bekommen. Sie will genau wissen, wo wir herkommen und als sie Theater hört, stößt sie einen kleinen Seufzer aus. Da sie ein wahrhaft breites Sächsisch spricht frage ich sie, wo sie herstammt. Sie kommt aus Plauen. Sie hätte es nicht dazusagen müssen: Plauen Vogtland. Sie ist, als die Nazis an die Macht kamen, mit ihrem Mann ausgewandert. Kitchener hieß früher Berlin, wurde aber im ersten Weltkrieg wegen der antideutschen Stimmung in Kitchener umbenannt. Es gibt zwei Arten von Sächsisch. Eine ist hart, ist etwas ordinär und klingt unangenehm. Die Andere ist weich, fröhlich, es gibt keine „p“ das sind alles „b“ und auch beim „t“ wird immer ein „d“ gesprochen. Sie kam aus „Blauen Vochdland“.
An den Niagara Fällen ist die Grenze zu Kanada. Wir müssen aussteigen, zur Paßkontrolle gehen. Der Bus wird nicht kontrolliert, er wird durchgewunken.

So einfach weiter, geht es für uns leider nicht. An der US Seite können wir problemlos ausreisen und laufen hinüber zur kanadischen Seite. Dort will man uns nicht hereinlassen. Zuwenig Geld, kein Heimflugticket, wir sehen aus wie Landstreicher, die wollen sie nicht. Nein, keine Erklärungen helfen, nichts. Hart werden wir wieder zurückgewiesen. Wir gehen deprimiert den langen Weg über die Regenbogen Brücke zurück, zu den Grenzbeamten der USA. Die lassen uns auch nicht mehr herein. Jetzt sitzen wir im Niemandsland fest. Wir machen einen neuen Anlauf und bitten die Beamten, ob wir denn mal telefonieren dürften. Ja, das dürfen wir. Wir rufen Isas Eltern an. Niemand daheim. Zum Glück weiß sie die Namen der Nachbarn und ruft dort an. Endlich jemand da. Wir bitten sie auf kanadischer Seite an der Grenze anzurufen und zu bestätigen, daß wir die Kinder sind, Studenten in den Semesterferien und erwartet werden. Sie versprechen, sich sofort zu kümmern. Wir sind erleichtert. Wir laufen wieder den langen Weg über die Brücke. In der Mitte der Brücke mit Sicht auf die Wasserfälle bleiben wir stehen und nehmen uns lange in den Arm. Das war eben ein Schreck. Aber bei aller Härte. Hier waren die Beamten nie bedrohlich und angsteinflößend aufgetreten, sowie ich es von der Ostdeutschen Polizei kannte. Auf kanadischer Seite sagen wir den Beamten, es kommt ein Telefonanruf unserer Eltern. Sie werden das klären. Daraufhin dürfen wir bis in den Warteraum und holen uns einen Kaffee. Wir sind erleichtert. Isa beginnt plötzlich zu rezitieren: „John Maynard war unser Steuermann“ und lacht, „aushielt er, bis er das Ufer gewann, er hat uns gerettet, er trägt die Kron', er starb für uns, unsre Liebe sein Lohn. John Maynard“. Sie zeigt auf die Wasserfälle „Das war genau hier. Theodor Fontane. Tja auswendig gelernt. Gymnasium Elfte Klasse. ‚Die Schwalbe über den Eriesee‘“. „Kenne ich auch“, sage ich. „Ich hatte das nicht in der Schule aber Friedolin mußte es auch in der elften Klasse lernen, er rannte damit im Zimmer auf und ab, rezitierte es laut vor sich hin, bis er es konnte. Ich dachte immer die Schwalbe, das wäre ein Vogel gewesen, später verstand ich erst, das Schiff hieß ‚Schwalbe‘“. „Und Du, was mußtest Du in der Schule für Gedichte lernen?“ fragt Isa. Ich überlege und da fällt mir ein: „Sagt Mutter, 's ist Uwe!“. Ich frage Isa: „Und kennst Du das?“ „Nein, von wem ist das?“ „Das habe ich vergessen, es handelt von einem Schiff in Seenot. Die Seeleute an Land wollen dem Schiff in seiner Not helfen. Die Mutter ist dagegen, sie will nicht daß sich ihr zweiter Sohn in Gefahr begibt, hat schon ihren ersten Sohn Uwe, an die See verloren. Und trotzdem, die Seeleute fahren raus in die stürmische See … und dann die letzte Strophe: „Sagt Mutter, 's ist Uwe!“. bei der bekomme ich immer Gänsehaut.“
Nach etwa einer halben Stunde sehen wir, wie einer der Beamten mit dem Telefonhörer am Ohr zu uns herschaut und dann mit dem Kopf nickt. Sie winken uns heran. Isas Eltern waren nicht erreichbar, die Nachbarn haben bestätigt, daß die Kinder aus Deutschland erwartet werden. Wir dürfen weiter.
Mein Vorschlag zum Trampen, gleich hier an der Grenze stehen zu bleiben, da fahren alle noch langsam, war eine gute Idee. Nach nur etwa zwanzig Minuten an der Ausfahrt, hält ein kleiner Sportwagen. Ein Mann, vielleicht vierzig Jahre alt. Jeans und T-Shirt mit Turnschuhen an den Füßen. Er könne uns nur bis Hamilton mitnehmen er führe nach Toronto, wir wollen weiter gen Norden nach Tobermory, zur Fähre nach Manitoulin Island. Wir nehmen sein Angebot an und steigen ein. Es ist gerade so für uns und das Gepäck Platz. Am nächsten Parkplatz fährt er er schon wieder ab, hält an und fragt mich, ob ich fahren könne. Er käme von südlich von New York und müsse zur Beerdigung seines Vaters nach Toronto. Ihm würden die Augen zufallen. Gerne tauschen wir die Plätze. Der Tacho sei defekt, ich solle mich an der Geschwindigkeit der Anderen und am Klang des Motors orientieren. Dann nimmt er seine Jacke als Kopfkissen und schließt die Augen. Es ist ein wunderbares Fahren. Die breite 6-Spurige Autobahn, der ruhige gleichmäßige Verkehr. Die weite Landschaft. Ein tolles Auto und die eben überstandene Aufregung an der Grenze. In Hamilton darf ich einen kleinen Umweg zur Autobahn 6 nach Norden fahren. Dort steigen wir aus. Er winkt uns zu und verschwindet im Strom der Fahrzeuge.
Da stehen wir wieder. Er hat uns an einer Tankstelle abgesetzt.
Fortuna bleibt uns hold. Wir werden erst von einem kleinen Lieferwagen bis Guelph mitgenommen und haben dann ganz großes Glück, ein Ehepaar möchte nach Tobermory und setzt uns direkt an der Fähre ab. Es ist bereits Abend, die letzte Fähre nach South Baymouth, hinüber auf die Insel, ist schon weg. Wir rufen Isas Eltern an, erreichen sie jetzt auch. Sie freuen sich sehr und sie kümmern sich um unsere Weiterkommen. Wir sollen morgen früh drüben in South Baymouth direkt an der Anlegestelle zu dem kleinen Bäcker gehen. Jetzt fehlt uns nur etwas zum Essen und zum Schlafen. Draußen schlafen, wie im Hyde Park, da ist es hier nachts zu kalt. Wir sehen, der Warteraum am Fährschalter ist offen, dort können wir über­nachten. Isa kauft uns Brot, Käse und zwei Büchsen weiße Bohnen. Ich entzünde am Ufer ein Lagerfeuer, wir öffnen die Büchsen, stellen sie eine Weile ins Feuer und tunken, da wir keinen Löffel oder eine Gabel haben, dann das Brot in die Bohnen. Es ist sehr idyllisch, romantisch und als Krönung geht die Sonne über dem See unter. Auf einer langen Bank im Warteraum machen wir uns ein Lager. Dann kriechen wir in den gemeinsamen Schlafsack. Isa liegt halb auf mir, hat es deshalb etwas bequemer.
Der Schalter öffnet, wir müssen aufbrechen, kaufen gleich zwei Tickets, erfahren, die Fähre legt in zwei Stunden ab und Kaffee gibt es die Straße hoch, dort ist ein Café. Zum Glück, auch hier im Warteraum, piekfein saubere Toiletten. Die Fähre ist im Vergleich zu der in Calais winzig. Es passen nur ein paar Autos drauf. Für die Passagiere gibt es ein Passagierdeck mit Restaurant und auf dem Oberdeck ein paar Sitzbänke. LKWs können nicht mit, die müssen den Umweg über Sudbury nach Espanola nehmen und können bei Little Current über die Brücke auf die Insel. Wir setzen uns aufs Oberdeck. Zwei Stunden wird die Fahrt dauern. Wir haben noch etwas Brot von gestern und dazu ein Stück Edamer.
In South Baymouth am Pier schauen wir uns um. Die Straße hinauf sehen wir kleine bunte Häuser, es sieht aus wie auf Werbeprospekten für Reisen nach Schweden. Das Eckhaus ist eine kleine Bäckerei. Auf dem Schild über dem Eingang steht in Großbuchstaben BAKERY und etwas kleiner darunter Bäckerei. Trotz des mehrsprachigen Schildes, spricht niemand deutsch. Wir werden mit Kaffee (auch dieser verdient nicht so genannt zu werden) und Streuselkuchen versorgt. Die Verkäuferin kommt mit einer dicken Tüte zu uns. „Das ist das Mehl aus Deutschland, das Deine Mutter bestellt hatte“ stellt diese vor uns ab und informiert uns, es sei für uns eine Art Staffellauf organisiert worden. „Erst nimmt Euch eine Familie mit bis Mindemoya und von dort ginge es weiter bis Spring Bay, dort holt Euch dann Eure Mutter ab. Wir haben alles gestern Abend organisiert.“ Wir sind überrascht, freuen uns und dürfen auch Kaffee und Kuchen nicht bezahlen.
Es sind fast 50 km bis Spring Bay. Wir erfahren unterwegs, Manitoulin Island sei die größte Süßwasser Insel der Welt. Die Straßen sind immer schnurgerade aus, um dann in einer 90° Kurve abzubiegen und wieder schnurgeradeaus zu führen. Mehr so, als ob man auf einem Schachbrett eine Straßenkarte angelegt hätte. Spring Bay ist ein Straßendorf, ein kleiner Ort mit Tankstelle, Gemischtwarenladen, einen extra Laden für Alkohol ‚Liquor store‘, weil man, so erfahren wir, in normalen Geschäften keinen Alkohol verkaufen darf. Die Häuser sind entlang der Hauptstraße, aber nicht wie wir es kennen mit Bürgersteig und dann die Häuser, sondern, die Straße wirkt auf den ersten Blick leer, erst dann sieht man zwischen den Bäumen im Abstand von ca. 50m die Häuser, mit ihrer Einfahrt. Neben einer Autowerkstatt, mit drei Eingangsstufen, eine Poststelle. Gegenüber eine kleine Kirche. Wir setzen uns auf die Treppe bei der Post und warten auf Isas Mutter.
Dann wendet ein großer breiter weinroter Ford vor uns. Es ist Isas Mutter. Es ist ein amerikanischer Straßenkreuzer. Vorne können bequem 3 Leute sitzen. Sie steigt aus lächelt und nimmt uns nacheinander in den Arm. „Na, wie hat Euch das gefallen, organisiertes Trampen?“ Sie lacht. „Die Bäckerei ist so etwas wie unsere Zentrale. Es ist ein weites Land, Nachbarn sind oft mehr als 10 Km entfernt. Da lernt man, sich zu helfen.“ Wir steigen ein und es geht wieder nur schnurgeradeaus, bis wir in einer dieser 90° Kurven, die nach rechts führt, nach links in eine Schotterstraße abbiegen. Es geht durch einen Wald, dann wieder offene Felder und nach etwa 4 bis 5 Km kommen wir an einer Farm vorbei. „Das sind unsere Nachbarn“. Wieder geht es durch den Wald, bis wir endlich mit Blick auf den Huronsee vor ihrem Blockhaus stehen. Ich habe, als ich bei ihnen in Deutschland hörte, wir haben ein Blockhaus, eher an eine Jagdhütte oder etwas in dieser Art gedacht. Hier steht ein 2-Etagiges großes Blockhaus. Parterre ist aus Stein gemauert und auf diesem Sockel steht das Blockhaus. Mir bleibt die Spucke weg. Gegenüber am Wald, gibt es eine Scheune. Es ist ein Werkraum, in seiner Mitte eine große Bandsäge und an den Wänden viel Werkzeug, darüber der Dachraum ist als Gästezimmer ausgebaut. Dort schlafen wir.
Die nächsten Tage bummeln wir herum, gehen an den Strand versuchen im Huron See zu schwimmen, was nur ganz kurz gelingt. Der Sand ist um die Mittagszeit heiß, man kann kaum barfuß laufen. Trotzdem, das Wasser ist jetzt im Sommer kälter, als das Mittelmeer im Frühjahr. Wie wir uns die Heimreise vorstellen, fragt uns beim Abendessen Inas Vater. Wir wollen den Sommer irgendwo auf einer Farm mitarbeiten und von dem Geld heimfliegen, vielleicht mit dem Schiff ab Québec eine Passage bekommen, wenn möglich auch an Bord arbeiten. Isas Geschwister findet die Idee gut, Isas Eltern finden sie naiv. In den nächsten Tagen fahren wir mit dem Auto zu den umliegenden Farmen und fragen, ob wir bei der Ernte helfen können. Das Auto hat vorne eine durchgehende Sitzbank. Wenn Isa fährt muß die so weit nach vorne gestellt sein, daß auf dem Beifahrerseite für meine Beine kein Platz mehr ist und ich dann hinten sitze. Wir erfahren, Erntehelfer werden nicht mehr gebraucht, das machen alles Maschinen. Bei den direkten Nachbarn bekommen wir Unterstützung. Isa und ich sitzen mit Vater und Sohn in der Küche, bekommen eine Büchse eiskalten Biers angeboten (Geschmack … siehe Kaffee). Von der Unterhaltung bekomme ich nichts mit, auch Isa muß mehrfach zurückfragen. Die beiden Männer artikulieren für uns unver­ständlich. Sie bewegen auch nicht den Mund, die Wörter werden irgendwie nur mit dem Kehlkopf als Brumm- und Krächzlaute gebildet. Das ist bestimmt auch für Muttersprachler nur schwer zu verstehen. Sie wollen sich für uns umhören. Nach zwei Tagen rufen sie an, sie hätten auch nichts gefunden. Unsere Idee, in Québec anzuheuern, dazu erfahren wir, braucht man ein Seefahrtsbuch. Ohne ist das nicht möglich. Das Familienleben ist fast so, wie in Deutschland. Jeder hilft ein wenig mit, beim Tischdecken oder abräumen. Trotzdem bleibt die Hauptarbeit im Haushalt an Ursula hängen. Da ich so herzlich und fast selbstverständlich, wie ein Geschwister in der Familie aufgenommen bin, möchte ich auch nicht den Eindruck erwecken, Gast zu sein und suche mir ein Revier, bei dem ich mich an der Hausarbeit beteiligen kann. In der unteren Etage ist ein großes Badezimmer, da steht auch die Waschmaschine. Das nehme ich mir vor und beginne einen Generalputz. Außer Ursula ist das niemandem aufgefallen. Beim Abendessen besprechen wir, was zu tun sei. Isas Vater entscheidet, daß wir mit ihnen gemeinsam heimfliegen sollen. In 10 Tagen sind die Ferien für sie vorbei. Dann können wir zusammen nach Toronto zum Flughafen fahren. Er bucht für uns den Flug. Weil nun der Termin der Abreise fest steht, wollen wir noch etwas unternehmen. Ursula macht den Vorschlag, gemeinsam ins Indianer Reservat zu fahren, echte handgemachte Mokassins einzukaufen. Unterwegs erzählt sie uns: Manitoulin Island ist bei den Indianern, die jetzt ‚First Nations‘ genannt werden, ein heiliger Ort. Sie haben eine eigene Polizei und Verwaltung. Da werde ich ganz neugierig, vermute ein paar Tipis zu sehen. Aber es ist eine Ansammlung von einigen wenigen ganz schlichten Häusern. Alte Autos stehen auf einer Wiese und am Rand der Siedlung der Laden. In der Einfahrt ein übermannsgroßer, bunt bemalter Totempfahl. Als indianische handgefertigte Sachen gibt es Federschmuck, bunte Untersetzer, Traumfänger und eine Regalwand voll mit Mokassins. Es ist mehr ein Souvenirshop, denn ein Laden. Nach längerem Suchen finden wir auch für meine Schuhgröße passende Mokassins, mit verstärkter Sohle für draußen. Isa kauft sich welche ohne verstärkte Sohle, als Hausschuhe. Ich finde Ansichtskarten mit indianischen Motiven und nehme drei Stück. Zwei nach Thüringen und eine an Maximilian. Für die Ureinwohner, die Menschen hier im Reservat waren die Fremden der Untergang. Sie verloren an sie ihr Land, die Kultur und sind zu Almosenempfänger degradiert. Hier leiden nicht die Fremden, sondern die Einheimischen. Mir fällt auf, nur den an der Situation leidenden ist die Situation bewußt. Die andere Seite bemerkt nicht einmal, daß es einen Konflikt gibt. Ob es den Bleichgesichtern irgendwann bewußt wird, daß sie an den Ureinwohnern ein Verbrechen begangen haben? Jetzt muß ich über meinen Gedankengang schmunzeln. Oh weh, Old Shatterhand läßt grüßen.
Die Abende verbringen wir alle zusammen, draußen auf der Terrasse. Manchmal mit Lagerfeuer, auch wegen der Mücken. Ursula bereitet zum Abschluß der Ferien ein großes Grillfest mit Lagerfeuer am Strand vor. Dazu bittet sie mich, mit zur Fleischerei einkaufen zukommen. Wir fahren Richtung Spring Bay und geradeaus weiter. Nach etwa zwei Kilometern kommt auf der rechten Seite ein großes alleinstehendes Haus. Auf den ersten Blick sieht es aus, wie eine ausgebaute Scheune, aber es ist ein festes Haus. ‚Manitoulin Meat‘ steht in großen Buchstaben an der Hausfront. Wir gehen durch eine breite Schiebetür in den Verkaufsraum. Innen ist alles mit einfachen weißen Kacheln an Boden und Wänden ausgekachelt. In der Mitte steht ein stabiler Verkaufstresen mit gläserner Vorderfront, der ist vollständig leer. Daneben ein breiter Tisch mit einer Bandsäge. Würste, Schinken oder Speckstreifen, die bei einem Fleischer im Verkaufsraum hängen, gibt es nicht. Oben an der Decke führt eine lange Schiene in den Nebenraum. In einer weißen Schürze, mit Gummistiefeln und einem weißen Käppi, kommt der Fleischer herein. „Hi Ursula“ „Hi Mike“ begrüßen sie sich. Wir wollen zum Abschluß der Ferien Grillen und brauchen ein paar Steaks erklärt Ursula. Daraufhin öffnet er eine Schiebetür zum Nebenraum. Es ist ein Kühlraum. Er geht hinein, kommt mit einer ganzen, an einem Haken an der Schiene hängenden Rinderhälfte zurück und wuchtet das Teil auf den Tisch. Mit der Bandsäge sägt er uns mehrere daumendicke Scheiben Fleisch für ab. Auf dem Heimweg holen wir noch Tomaten, Kartoffeln, Gemüse und im Liquor store eine 12-er Packung Bier.
Dann ist Abreisetag, alles aufräumen, Wasser und Strom abstellen, Auto packen und das Haus abschließen. Auf meine Bitte hin, halten wir in Spring Bay an der Post, ich gebe meine Karten auf. In Little Current ist die Brücke gedreht, wir müssen warten, bis ein Schiff durch ist. Noch 500 km bis zum Flughafen in Toronto. Unser Linienflug geht eine Stunde früher, als ihr Charterflug.
Männer würden es nie tun. Es ist eine unangenehme Indiskretion, jemandem beim Denken zu stören. Frauen tun das trotzdem: Isa fragt mich, nachdem wir im Flugzeug lange schweigend nebeneinander gesessen haben: „Was denkst Du?“. Aufgeschreckt überlege ich, wie ich es erklären soll. „Deine Mutter hat bei Euch in Soest gesagt, Sie wären nicht in die Dorfgemeinschaft aufgenommen und immer noch Fremde. In Spring Bay sind sie nach kurzer Zeit in die Gemeinschaft aufgenommen worden. Ob dieses, den Fremden ablehnen, etwas mit der Bevölkerungsdichte zu tun hat? Ob das ein genetischer Schalter ist, der sich aktiviert, wenn zu viele fremde Menschen in dem als eigenes Revier verstandenen Bereich eindringen? Ein Reflex, der vor tausenden Jahren, als wir durch die Savanne zogen, notwendig war und immer weiter vererbt wurde? Die Einheimischen spüren das nicht, sie machen es unbewußt. Diese Ablehnung spürt man nur, wenn man selbst der Fremde ist. Die Welt wächst immer weiter zusammen. Ob man nicht in der Schule im Biologie Unterricht, über archaische Reflexe im Menschlichen Verhalten reden sollte? Isa schweigt eine Weile und antwortet dann: „Wahrscheinlich denkst Du darüber nach, weil Du davon betroffen bist und eine gewisse Ablehnung spürst. Mir ist das nie aufgefallen, auch daheim in Soest nicht. Ob es auch etwas mit der Anzahl der Fremden zu tun hat?“ Dann versinken wir wieder, jeder in seine eigenen Gedanken. Ich denke über mich nach.
So blauäugig wie ich nach Italien reiste, bin ich schon wieder losgezogen. Ob das meine Art in die Welt zugehen, zu leben ist?