Das verflixt schöne Leben


24 Mira

Verantwortung zu fühlen ist Liebe, sind Hormone, ist genetisches Erbe und Wünsche an die Zukunft. Was weiß ich schon über mich und was ich werde? Aber eines kann ich sagen: Ich haben die Kraft mit meinem Denken zu ergründen, was ich bin. Kant meint nur, daß man sich damit aus seiner Unmündigkeit befreit. Ich will es nicht so allgemein sehen, sondern gezielt mich ergründen.
Auf der Fahrt zu Isas Eltern dachte ich über unsere Mütter nach. Ob das Flammeninferno in Halberstadt im Gehirn meiner Mutter diese Verwirbelungen erzeugte, daß der Widerschein der alten Bilder ihren Blick auf die Realität überlagerte? Was ist wohl Isas Mutter passiert, daß der Urreflex seine Kinder zu schützen, bei ihr zeitweise außer Kraft gesetzt war?
Ich sitze entspannt in meinem Käfer. Isa neben mir und weil es schon fast Tradition ist, essen wir in der Raststätte Rhön eine Bockwurst. Die Schulden an Fred hatte ich, wie versprochen, innerhalb einer Woche in Nürnberg bei Sabah abgegeben und auch mit der Zwo-sieben genügend verdient. Bei Isas Eltern sagen wir nur kurz „Guten Tag“ fragen nach dem Weg zu der Züchterin. Dort werden wir erwartet. Es sind noch zwei Welpen da, ein Rüde und eine Hündin. Wir entscheiden uns für die Hündin, da mit dem ständigen stehen bleiben, weil er „Markieren muß“, ich mit einem Rüden nicht spazieren gehen möchte. Ich bezahle die 200 DM, wir bekommen die Papiere und den Impfpaß. Nehmen unsere kleine Dame eingewickelt in einen mitgebrachten alten Pullover auf den Arm und fahren zurück, zu Isas Eltern. Dort darf sie im Kaminzimmer auf den Boden und wird neugierig von den Dackeln beschnuppert. Dann wackelt sie im unsicheren Welpengang zu dem Fell vor dem Kamin, hockt sich darauf und pinkelt eine große Pfütze. Oskar, der gerade in diesem Moment hereinkommt muß lachen und nimmt die Kleine hoch, um sie genauer zu betrachten. „Das nenn’ ich eine Begrüßung, mir vor den Kamin zu pinkeln.“ Seine Stimme klingt aber nicht böse. „So eine süße kleine Langhaardame. Wird sie mal rot oder dunkel, wie sah die Mutter aus?“ „Sie wird rotbraun“ antwortet Isa. „Da habt Ihr Euch etwas angeschafft. Viel Spaß und jetzt aufwischen, dann erst mal raus auf die Wiese mit ihr, damit nicht noch ein größeres Unglück geschieht. Wie heißt sie denn?“ „Wir überlegen noch…“ da haben wir noch nicht nachgedacht. Es geht aber sehr schnell, nach nur wenigen Vorschlägen gefällt uns beiden Mira am besten. Die Kurzform von Mirabella die Wunderbare. Abends auf dem Sofa versucht sich Mira an einen der beiden Dackel anzukuscheln, darf es nach mehreren Versuchen. Sie legt sich so, daß sie uns immer sehen kann. Hat sie verstanden, daß wir ihr neues Rudel sind? Das Füttern verlief problemlos. Sie bekam ihre Portion etwas abseits von den Großen und als aufgefressen und die Näpfe saubergeleckt waren, ging es reihum und wurden die anderen Näpfe kontrolliert und erneut sauber geleckt. Sicherheitshalber gingen wir alle Stunde einmal mit ihr auf die Wiese. Dann zum Schlafen wollten wir konsequent sein. Der Hund kommt nicht ins Bett. Wir bauen vor dem Bett ein gemütliches Hundekörbchen mit Decke, Kissen und dem Pullover und legen Mira hinein. Obwohl wir eine Hand zu ihr ins Körbchen halten und sie streicheln, jault und fiepst sie ununterbrochen. Erst als Isa sie hoch zu sich in den Arm nimmt, gibt sie Ruhe und schläft. Auf der Heimfahrt bleibt sie nicht in dem Körbchen auf dem Rücksitz. Sie will bei uns auf dem Schoß sitzen. Der Pullover wird das Reisekörbchen, Mira braucht immer direkten Körperkontakt.
Mira gehörte jetzt zu unserem Leben besser zu meinem Leben. Auch in der Uni ist sie immer dabei, im Hörsaal schläft sie unbemerkt von den anderen unter meinem weiten Pullover. In den Seminaren ist es sehr zwanglos. Mütter haben ihre Säuglinge dabei, die auch falls hungrig, gestillt werden. Nur einmal, als einer strickenden Kommilitonin das Wollknäuel in die Mitte zwischen die zu einem großen Viereck aufgestellten Tische rollt, springt Mira mit einem großen Satz hin und fängt an damit zu spielen. Da bat mich Holger, ich möge bitte Mira wieder hochnehmen, da die allgemeine Aufmerksamkeit nicht mehr ihm, sondern nur dem Welpen gilt. Täglich gehe ich mit ihr spazieren, das verändert grundlegend meinen Tagesablauf. Für mich ist Mira ein Wesen, das vollständig von mir und meiner Fürsorge abhängt. Ich gehe deshalb kaum noch ins Brazil. Mein üblicher Spaziergang führt an der Löwenichstraße zur Schwabach und durch den Meilwald hoch zum Aussichtspunkt, einer Rundbank um einen alten Baum. Dort bleibe ich immer eine Weile sitzen, bekomme so wieder das Gefühl für die Jahreszeiten. Für Isa war der Spaziergang, der Auslauf für Mira nicht immer wichtig. Bei schlechtem Wetter sagte sie schon mal: „Ach, heute muß der Hund nicht raus.“ Ich kann das nicht, ich muß gehen, muß Mira ihren Auslauf verschaffen. Sie ist immer und überall mit uns, wäre sonst in der Wohnung eingesperrt – für mich eine unerträgliche Vorstellung. Oft, sogar sehr oft passiert es, daß Mira im Wald davonläuft, weil sie ein Kaninchen riecht, ein Eichhörnchen oben auf dem Baum entdeckt. Ich weiß, ich sollte Mira an der Leine halten, das bringe ich einfach nicht fertig. Sie muß frei laufen können und so laufe ich oft nach ihr rufend durch den Wald oder warte auf der Bank, bis sie müde wieder bei mir ankommt. Es passiert auch, daß ich Mira bei irgendwelchen Leuten abhole, die sie im Wald aufgelesen haben. Wenn ich querfeldein im Wald durch das Unterholz nach Mira suche, erinnert mich, der Geruch der Blätter, der Wurzeln und Moose an meine langen Spaziergänge in Eisenach. Damals lief ich, im Winter auf meinen Skiern, mit unserem Setter „Assy“, hinter dem Pfarrhaus los, hoch zur Wartburg und weiter zur Sängerwiese. Um unseren Setter mußte ich mich nicht kümmern, der blieb immer in meiner Nähe. Für ihn fühlte ich auch nicht diese Verantwortung, die hatte meine Mutter für ihn. Jetzt bringen mir die vielen Spaziergänge die lange nicht mehr wahrgenommenen Jahreszeiten zurück, sehe und rieche wieder: Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Ich ziehe in die Elisabethstraße. Sie besteht aus acht Wohnblocks, die in 200 Meter Abstand schräg zur Straße errichtet wurden. Jeder Wohnblock ist zwei Stockwerke hoch und hat drei Eingänge. Ich wohne im dritten Block in der Mitte im ersten Stock links. Mira ist selten bei mir, sie bleibt meistens bei Isa, dort hole ich sie zum Spaziergang ab. In meiner Wohnung habe ich mir, schräg zum Fenster eine Schreibplatte und Ablage für Bücher aufgebaut. Mitten drauf meine Schreibmaschine. So sitze ich nicht direkt vor dem Fenster, kann aber bequem hinaus schauen. Von meinen Nachbarn kenne ich noch niemanden. Viele alte Leute. Gegenüber sehe ich am Fenster ab und zu eine junge Frau mit ihrem Kind auf dem Arm, wie sie zu mir herüberschaut. Sie ist mir auch mal auf dem Weg begegnet. Sie ging neben ihrem Mann und sie schoben einen Kinderwagen. Dabei hat sie mich, ohne zu grüßen, intensiv von der Seite angeschaut. Mein Haushalt ist mager. Ein Topf, etwas Besteck, zwei Teller. Ein Bett habe ich mir vom Schrottplatz besorgt. Es besteht nur aus einem Stahlgestell, das ich auf vier Backsteine gestellt habe. Dazu habe ich aus einer WG eine übrig gebliebene passende Matratze bekommen. Die Bettdecke, das Kopfkissen, alles kam irgendwie zu mir. Ich hatte mich auf meine eigene Wohnung gefreut. Jetzt fühle ich mich nicht wohl. Die tristen Wohnblocks, dazwischen etwas Wiese und ein paar Birken. Im Haus riecht es komisch nach alten Leuten, Putzmittel und muffig aus dem Keller. Ich bin nur selten hier habe mir nie etwas gekocht, nicht mal Kaffee am Morgen. Ich muß alle zwei Wochen Putzdienst machen, das heißt Treppe wischen bis unten zur Haustür. Heute bin ich hier, Isa hat sich angekündigt, sie möchte mich besuchen. Es klingelt und sie steht mit Brot, Salz und einer Flasche Rotwein in der Hand vor meiner Tür. Wir verbringen, auch mangels Sitzgelegenheit, den Nachmittag im Bett. Die Sonne scheint schräg herein, beleuchtet Isa, die dabei in ihrer Nacktheit wie eine ruhende Göttin aussieht. Ihre Augen sind geschlossen und sie genießt die Berührung meiner Hände. Über Nacht bleiben wollen wir beide nicht, ziehen uns an, lassen den Rest der Weinflasche stehen und gehen los Richtung Zollhausplatz zu Sulla. Als wir durch die Drausnickstraße laufen erzählt Isa, sie hat von Adele gehört, Oberst Drausnick sei ein schrecklicher Militarist gewesen und es läuft ein Antrag auf Umbenennung. Sie nennt die Straße nur Grausmichstraße. Sie wohnt jetzt hier um die Ecke. Bei Sulla essen wir zusammen, dann bringe ich Isa und Mira heim und beginne meine Nachtschicht.