Kapitel 1
Freilassung

Mein kleiner Bruder Maximilian und ich sitzen nebeneinander in einem dieser Geisterbusse, von denen man hier im Osten nur hinter vorgehaltener Hand spricht. Mit uns im Bus weitere Häftlinge. Alle schon in Zivil. Wir hatten in den letzten zwei Wochen die Stasi Sonderbehandlung bekommen. Die bekommen nur die Häftlinge, die zur Ausreise bestimmt sind, die nach Westdeutschland verkauft werden. Wir bekamen sogar Obst und Gemüse, damit wir nicht ganz so blaß aussehen, mußten nicht mehr zum Haareschneiden, durften bzw. mußten unser zwangsgespartes Knastgeld ausgeben. Bekamen dafür West­zigaretten, Rasierwasser, alles wie im Intershop. Gestern hatten sie uns die Entlassungsurkunde aus der Haft und die Urkunde mit der Entlassung aus der Staatsbürgerschaft gegeben. Das eine ein postkartengroßer Wisch mit Paßphoto und das andere eine hellgrüne, A4 große Urkunde oben mit Hammer & Sichel, Stempel und unten einer amtlichen Unterschrift.

Der Bus steht noch im von hohen grauen Mauern umgebenen Innenhof. Gespannte Stille, niemand redet und wegen der Mauern dringen keine Geräusche von außen herein. Wir sitzen und warten, es kommen noch weitere Häftlinge und steigen ein. Nach dem Frühstück hatten sie unsere Vier-Mann-Zelle aufgeschlossen. Auf dem Gang vor der Zelle standen die Reisetaschen. Wir wurden auch nicht wie sonst einzeln aufgerufen, sondern sollten alle zusammen heraustreten und unsere Reisetasche aufnehmen. Wir mußten nicht mehr mit „Gesicht zur Wand“ beim Gang durch die verschiedenen Gittertüren stehen bleiben, alle Gittertüren waren bereits geöffnet und die Schließer zeigten uns nur mit einem Handzeichen, wir sollten durch sie hindurch und hinaus zum Bus gehen.

Ich trage heute die selbe Kleidung, wie bei meiner Verhaftung. Meine ausgewaschene, an den Knien fast durchgescheuerte und unten bereits ausgefranste Levis Jeans, ein einfaches Baumwollhemd und darüber die Jeansjacke aus Cordstoff. Sie wurde mir gestern Abend, zusammen mit meinen anderen Effekten, ausgehändigt. Als mich damals in Budapest die Stasi abholte, waren die Umstände ähnlich. Ich wurde von einer Zelle, gesichert und geführt an einem Handknebel, zu einem Bus gebracht.v Es krampfte mein Magen der Kopf dröhnte und ich hatte Druck auf den Ohren.
Und heute:
Eigentlich müßte ich jetzt vor Freude aufgewühlt sein. Nein, ich spüre nichts, bin einfach nur ruhig - ich gehe ungehindert durch Gittertüren. Besser ich freue mich nicht zu früh. Damals, das war der Anfang einer unbestimmten Zeitdauer und heute, heute ist diese unbestimmte Zeitdauer zu Ende. Jetzt tut sich etwas, ein Mann erscheint in der Bustür:
„Hallo, wer mich noch nicht kennt, ich bin ihr Rechtsanwalt, Dr. Wolfgang Vogel“.
Er räuspert sich und tritt ganz in den Bus herein.
„Ihre Haftzeit ist vorbei, dieser nette Mann hier …“
er zeigt auf den Fahrer
„… bringt Sie in die Bundesrepublik.“
Er geht zurück zur Tür, dreht sich dabei noch einmal um:
„Bitte bewahren Sie Ruhe, bis Sie über die Grenze sind und sprechen Sie nicht über das, was sie erlebt haben, es könnte dem ganzen Verfahren schaden – denken Sie an ihre zurückgebliebenen Mitgefangenen. Bitte bleiben sie während der Fahrt absolut ruhig und winken keinen anderen Fahrzeugen zu! Wir haben bis zur Grenze noch Begleitfahrzeuge und alles könnte noch abgebrochen werden.“

Damit steigt er aus dem Bus. Steckt noch mal den Kopf herein:
„Alles Gute für ihr neues Leben!“
Nach ihm kommt ein Stasi-Leutnant herein und setzt sich ganz hinten in die letzte Reihe. Die Tür schließt sich, der Motor startet, das riesige Stahltor schiebt sich zur Seite, der Bus rollt an. Wir müssen einen kurzen Moment warten, aus einem Seitenhof kommt ein weiterer Westbus, in dem nur Frauen sitzen, heraus und fährt vor uns durch das Tor. Dann fahren auch wir durch das Tor. Erst Stadtverkehr, dann Landstraße, dann auf die Autobahn – mir erscheinen die Menschen auf der Straße unwirklich, sehr fern, wie eine fremde Welt. War ich zulange in der Zelle abgeschottet, bin ich dem normalen Leben entfremdet?
Autobahn Dresden – Hermsdorfer Kreuz - Eisenach, das war doch mal meine Stammstrecke. Thüringer Berge: Magdala bergauf, Apolda bergab, Weimar bergauf … Ich habe hier schon einmal Abschied genommen, damals in Eisenach, als ich los ging, ich mich auf meinen Weg machte. Damals fühlte ich mich bereits erwachsen. Bin ich das heute? Bus Häftlingsfreikauf Mein Rollenwechsel in der Position der Brüder: damals gegenüber dem Älteren erst der kleine, der Ikarus, dann gereift zum Großen, zum Dädalus – was bin ich jetzt? Wir kommen vorbei an riesigen abgeernteten Felder, sehen Frauen mit bunten Kopftüchern Garben binden, es riecht nach Herbst, es ist Herbst – heute ist der 5. September 1978. Wir fahren an Gotha vorbei, dann vor Eisenach die Steigung hinauf zu den Hörselbergen. Hier an der Autobahn habe ich beim Kraftverkehr Eisenach auf einem W50-Kipper als Fahrer gearbeitet. Wir nannten uns salopp Kieskutscher und haben frische Erde für den Randstreifen transportiert und angeschüttet – weit entferntes Leben, wie von einem anderen Stern. Oben auf der Kuppe der Hörselberge der Blick durchs Tal auf die Wartburg, wie sie stolz mit ihren zwei Türmen gegenüber auf dem Berg thront. Dann den Berg hinab unten im Tal die Ausfahrt Eisenach-Ost. Die hat einen kleinen Parkplatz, auf den wir einfahren. Der Bus hält, der Leutnant verläßt den Bus und steigt in den hinter uns her gefahrenen Lada.
„Den sind wir los!“ sagt der Fahrer in sein Mikrophon. Die Spannung löst sich, auf einmal kann ich wieder richtig tief durchatmen. Die Stasi ist weg! Alle klatschen. „Bleiben Sie ruhig, wir sind gleich an der Grenze. Noch ist die Stasi hinter uns.“ Wir fahren weiter.
Links von uns im Tal liegt Eisenach, der markante Hügel der Michelskuppe ragt heraus und dann hinter ihr etwas erhöht am Stadtrand, das große gelbe Pfarrhaus. In ihm bin ich aufgewachsen. Schon sind wir an der Ausfahrt Eisenach-West.
Da, rechts am Straßenrand das riesige Hinweisschild:
„HALT! Weiterfahrt nur für Transit“.
Das für mich immer bedeutet hatte: „DU NICHT!“
Das war früher das Ende meiner Welt, denn spätestens hier mußte ich von der Autobahn abfahren. Eine Weiterfahrt für Ostdeutsche war nicht möglich. Hier weiterfahren durften nur Westdeutsche. Heute im Bus fahre ich an diesem Schild vorbei, ab heute bin ich einer von denen, die weiter fahren dürfen.

Wir erreichen die Grenzanlage. Vor dem Abfertigungshäuschen eine lange Schlange wartender Westautos. Alles Transit von Westberlin nach Westdeutschland. Wir fahren zügig an ihnen vorbei und biegen direkt vor den kleinen Abfertigungshäuschen, mit einer scharfen Rechtskurve in eine Umgehungsspur ein, fahren mit unverminderter Geschwindigkeit weiter, kein Sperr­balken, keine Schranke, kein HALT! versperrt den Weg und auch kein „DU NICHT!“ hält uns auf. Jetzt, der Moment: mein Denken bleibt stehen, meine Wahrnehmung verengt sich, kein Rechts, kein Links, nur starr mein Blick durch die Front­scheibe: wir durchqueren den frisch geharkten Todesstreifen, das Niemandsland … die Grenze. Wie von außerhalb, wie in Trance, wie von ganz weit oben, sehe ich mich neben Maximilian sitzen und wir hauen uns gegenseitig ununterbrochen auf die Schenkel.

Wir fahren auf die westdeutschen Grenzer zu, da sehe ich, wie am Bus vor uns das ostdeutsche Nummernschild in ein Gießener Kennzeichen umklappt. Die westdeutschen Grenzbeamten winken nur lässig, wir sollen weiterfahren, die wissen wohl ganz genau, was es mit diesen Geisterbussen und den fahlen Gestalten darin, auf sich hat.

Nach ein paar Kilometern auf der Autobahn fahren wir auf einen Rastplatz. Jeder bekommt ein Proviantpaket mit zwei Brötchen und dazu eine seltsame Limonade. Sie ist in einer kleinen dreieckigen Silberfolie, man muß erst einen an der Seite angeklebten Strohhalm abreißen und in ein kleines vorgestanztes Loch stecken, dann kann man trinken. Wir stehen zusammen neben dem Bus und versuchen die Limonade zu öffnen. Dabei kommt mein vor Anspannung unterdrücktes Körpergefühl zurück: ich habe riesigen Durst und großen Hunger. Der Fahrer informiert uns, daß wir unterwegs zum Notaufnahmelager in Gießen sind und dort weiter versorgt würden.
Jetzt sehe ich, auch der Bus mit den Frauen ist hier auf dem Parkplatz. Plötzlich liegen sich zwei Ehepaare in den Armen. Man hatte sie wohl nach monate- oder auch jahrelanger Trennung gemeinsam entlassen. Ansonsten stehen fast alle allein. Jeder ist mit sich beschäftigt.
Ich kann meinem Bruder die schöne Nachricht mitteilen, daß ich das Westgeld, welches mir unser Vater vor der Flucht mitgegeben hatte tatsächlich wiederbekommen habe. Die Stasi mußte es mir zurückgeben weil sie mir nicht nachweisen konnten, daß ich es zur Flucht bekommen habe, sondern ich glaubhaft machen konnte, es unterwegs, also beim Trampen in Böhmen hinter Prag, für die Reparatur des Autos bekam, das mich mitgenommen hatte. Wir vereinbaren, daß wir damit sofort Essen gehen: Gänsebraten und Klöße.

Bald fahren wir weiter. Die Ehepaare haben sich zusammengesetzt.
Der Fahrer macht unterwegs Witze, über Verkehrszeichen mit Tempo 100, die es im Osten nicht gibt. Dann dreht er das Radio an, sucht einen Sender. Beim Suchen erklingt kurz Bach, aber lang genug, um es in meiner Erinnerung wachzurufen: das Wohltemperierte Klavier!

Ich spüre, wie sich mein Gesicht verzerrt, sich meine Nase zusammenzieht, ich kann nichts dagegen tun und verberge mich hinter meinen Händen. Der Busfahrer sucht weiter ... für meine Mitfahrer erklingen dann Schlager von HR3, für mich erklingt in mir weiterhin Bach, klar, weit und hell. Langsam, geschützt hinter meinen Händen finde ich zu mir. Die Wand schwindet, die sich am Morgen zwischen mich und die Wirklichkeit geschoben hatte. Ich atme tief durch und habe das Gefühl, als hätte ich, seit sie mich vor zwei Wochen in Cottbus nachts aus meiner Zelle gesammelt haben, die ganze Zeit die Luft angehalten. Ich atme noch mal ganz tief und schaue erneut um mich, um mit neuen Augen zu sehen, was die anderen machen, was mein kleiner Bruder neben mir macht.

Er hat den Kopf an die Scheibe gelehnt und träumt vor sich hin, ich stoße ihn an. „Na alles klar?“ „Alles klar“ und er lächelt.
Ich feixe: „Ich war zuerst im Westen, ich habe mich an der Grenze vorgebeugt!“ Wir lachen.
Das Atmen tut gut.
Ich schaue auf uns beide und bin erleichtert und einfach nur froh:
Was hatte ich für unsägliche Angst um meinen Bruder, er würde es nicht schaffen, als der Schließer „roter Terror“, den wir nur kurz RT nannten, ihn acht Wochen zu verschärftem Arrest in den Keller, in den Tigerkäfig sperrte.
Er hat es überstanden!
Ich habe es überstanden!
Wir haben es überstanden!
Es ist vorbei.
Drei Ringe legten sich um meine Brust, sie schmerzen nicht, sie drücken nicht, es ist gerade so, daß ich spüre, sie sind da.
Der Stacheldraht, liegt hinter uns.
Mein Leben ist offen und weit.


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